Interview Lesezeit 5 Min.

„Wir könnten auf das PISA-Niveau von 2000 zurückfallen“

Zum zweiten Mal seit Ausbruch des Coronavirus sind in Deutschland die Schulen weitestgehend geschlossen. Was das für die Schülerinnen und Schüler bedeutet, erklären Christina Anger und Axel Plünnecke, Bildungsforscher am Institut der deutschen Wirtschaft.

Kernaussagen in Kürze:
  • Wie gut der Distanzunterricht funktioniert, ist keine Frage des Bundeslandes, sondern der einzelnen Schule und des jeweiligen Lehrers, sagt IW-Bildungsforscher Axel Plünnecke.
  • IW-Bildungsökonomin Christina Anger kritisiert, dass in den Schulen während der vergangenen Monate auch viel versäumt worden sei, um den Präsenzunterricht sicherer zu machen.
  • Beide Interviewpartner sind sich einig, dass die Schulschließungen einen Teil der Schüler hart treffen wird - vor allem die, die schon vor der Pandemie Schwierigkeiten in einem oder mehreren Fächern hatten.
Zur detaillierten Fassung

Sie haben beide schulpflichtige Kinder. Gehen die derzeit zur Schule?

Anger: Meine beiden Kinder sind zu Hause.

Plünnecke: Unsere drei schulpflichtigen Kinder auch, die Schulen in Nordrhein-Westfalen sind ja geschlossen.

Schon, es gibt aber doch die Möglichkeit der Notbetreuung.

Plünnecke: Wir sind ja in keiner Notsituation, weil wir das Privileg haben, auch im Homeoffice arbeiten zu können. So kann sich die Notbetreuung besser um die anderen Kinder kümmern. Zudem können wir unsere drei Schulkinder und das Kita-Kind zu Hause zumindest theoretisch (lacht) gut betreuen.

Wie zufrieden sind Sie mit dem Fernunterricht?

Plünnecke: Das muss man differenzieren. Es gibt Schulen, wo das sehr gut läuft, weil sie sich schon vor Jahren mit der Digitalisierung beschäftigt haben. Die Qualität des Distanzunterrichts hängt aber auch ganz stark von den einzelnen Lehrern ab: Im ersten Lockdown gab es sehr engagierte Lehrkräfte und durchaus auch welche, die eher abgetaucht sind.

Vereinzelt kann Fernunterricht den Unterricht im Klassenzimmer ersetzen, flächendeckend ist der Präsenzunterricht aber qualitativ besser.

Anger: Mein Sohn, der ein Kölner Gymnasium besucht, hat seit Ostern komplett Digitalunterricht nach Stundenplan von 8 bis 13.30 Uhr, das klappt vorbildlich. Während der Schulschließungen läuft das über die Online-Plattform Teams, die Stadt Köln hat das Programm jetzt für alle weiterführenden Schulen gekauft.

Und auch mein jüngeres Kind, das die Grundschule besucht, sieht jeden Wochentag seine Lehrerin und die anderen Kinder im Online-Unterricht, wobei hier nicht das volle Pensum stattfindet, sondern jeden Tag ein einzelnes Fach drankommt.

Plünnecke: Das ist bei meinen drei Schulkindern leider anders. Da gibt es wenig Interaktion im Fern-unterricht und nach spätestens zwei Stunden sind sie mit dem Schulstoff fertig.

Was hat sich seit dem ersten Lockdown verändert?

Christina Anger ist Leiterin der Forschungsgruppe Mikrodaten und Methodenentwicklung am IW; Axel Plünnecke ist Leiter des Kompetenzfelds Bildung, Zuwanderung und Innovation am IW; Fotos: IW Medien Plünnecke: Es gibt jetzt Lernplattformen, die gab es während der ersten Schulschließungen kaum. Und die Lehrer sind etwas besser vorbereitet, überhaupt ist alles mehr eingeübt. Ich würde mir allerdings wünschen, dass der komplette Unterricht während des Lockdowns wie bei deinen Kindern, Christina, als Videounterricht stattfindet und dass sehr gut gemachte und interessante Lernvideos, wie es sie beispielsweise auf Youtube oder auch beim öffentlich-rechtlichen Fernsehen gibt, stärker auch mit dem Lernplan verzahnt und auf den Lernplattformen integriert würden. Dieses Material kann als sinnvolle Begleitung für den Unterricht eingesetzt werden, zum Beispiel, wenn die Kinder mit ihren Aufgaben besonders schnell fertig sind.

Anger: Ja, es gibt jetzt Plattformen, doch wie wir aktuell beinahe täglich erleben, stürzen diese immer wieder ab – jedenfalls dann, wenn alle gleichzeitig darauf zugreifen. Das passiert nicht nur zu Hause, sondern auch in der Notbetreuung, weil viele Schulen kein stabiles WLAN haben. Und nach wie vor haben auch nicht alle Kinder und Jugendlichen einen Rechner, an manchen Schulen gibt es nach wie vor nicht genug Leihgeräte.

Kann gut organisierter Fernunterricht den Präsenzunterricht ersetzen?

Plünnecke: Stand heute würde ich für Deutschland sagen: Vereinzelt ja, flächendeckend nein, da ist der Präsenzunterricht qualitativ besser.

Anger: Die Kinder können ja beim Online-Unterricht die Kamera ausschalten und sind ganz schnell anderweitig beschäftigt – entweder mit dem Handy oder mit Computerspielen. Hinzu kommt, dass beim Distanzunterricht das gegenseitige Feedback fehlt. Deshalb ist auch für die Lehrer Fernunterricht nicht einfach: Sie müssen darauf vertrauen, dass der Stoff zu Hause gegebenenfalls noch nachgearbeitet wird.

Wie viel Lernstoff werden Kinder und Jugendliche in Deutschland aufgrund der Corona-Pandemie verpassen?

Plünnecke: Es geht auf jeden Fall etwas verloren. Besonders viel bei Kindern und Jugendlichen aus bildungsfernen Elternhäusern, in denen die Unterstützung fehlt.

Anger: Die geschlossenen Schulen sind vor allem für jene Schüler nachteilig, die schon vorher Probleme in einem Fach hatten – da setzt im Distanzunterricht schnell Frustration ein, die dann nicht selten in Resignation mündet.

Wie ließe sich das verhindern oder zumindest abmildern?

Plünnecke: Im Moment konzipiert jeder Lehrer seinen Online-Unterricht selbst. Sinnvoller wäre es, wenn durch die Schulministerien begleitet didaktisch hochwertige digitale Inhalte entwickelt würden, die dann für alle Schulen ausgespielt werden können – zumindest für die Klassen, in denen kein Liveunterricht digital möglich ist. Solche digitalen Inhalte wären auch später für die Zeit im Präsenzunterricht wertvoll.

Außerdem brauchen die Schulen mehr IT-Support, mindestens eine halbe professionelle Kraft pro Schule.

Viele Eltern finden es ungerecht, dass Schulen geschlossen werden, Betriebe – abgesehen von der Gastronomie und großen Teilen des Einzelhandels – aber nicht.

Plünnecke: In den Unternehmen können die Mitarbeiter auch leichter Abstand voneinander halten als die Kinder in den Schulen. Erschwerend kommt hinzu, dass die Schulleitungen nicht so viel selbst entscheiden können, wie sie es in einer Pandemie eigentlich müssten – da gibt es noch die Ministerien, die für das Lehrpersonal zuständig sind, sowie die Kommunen, die sich um Gebäude und alle technischen Angelegenheiten kümmern.

Anger: Man hätte in den Schulen in den vergangenen Monaten schon mehr tun können: größere Abstände einplanen, indem beispielsweise auch Räume wie die Schulaula für den Unterricht genutzt werden, Filteranlagen installieren, zusätzliche Busse anmieten, um im öffentlichen Nahverkehr die Kontakte zu reduzieren. Da hat man vielfach viel zu spät agiert.

Wie lange lassen sich die Schulschließungen Ihrer Meinung nach noch durchhalten?

Plünnecke: Wenn wieder erste Lockerungen möglich sein werden, sollten auch die Schulen mit dabei sein. Dort könnte man mit einem Wechselmodell starten, bei dem die Klassen halbiert werden – so ließen sich die AHA-Regeln einhalten und die Kinder wären wenigstens zwei bis drei Tage pro Woche in der Schule. Im Idealfall würde dieser Präsenzunterricht im Livestream von jenen Kindern mitverfolgt, die gerade zu Hause sind.

Welche gesamtwirtschaftlichen Folgen wird der Fernunterricht haben?

Anger: Es wird künftig mehr Schüler geben, die eine Klasse wiederholen müssen oder die Schule ganz ohne Abschluss verlassen. Und Schulabbrecher haben zumeist große Schwierigkeiten, einen Job zu finden.

Plünnecke: Ich befürchte, dass der Kompetenzverlust bei den Kindern und Jugendlichen durch die Schulschließungen so groß ist, dass wir wieder auf das PISA-Niveau von 2000 zurückfallen könnten. Deshalb müssen wir jetzt dringend Konzepte entwickeln, wie die vor allem bei Kindern aus bildungsfernen Haushalten entstandenen Wissenslücken wieder geschlossen werden können.

Das könnte Sie auch interessieren

Meistgelesene