„Am Ende kommt es auf uns alle an“
Der rasante Anstieg der Corona-Infektionszahlen hat Deutschland im November in einen zweiten, abgeschwächten Lockdown geführt. Wie es zu dieser Situation kommen konnte und was die Politik jetzt tun sollte, darüber sprach der iwd mit der Medizinethikerin Christiane Woopen und IW-Direktor Michael Hüther. Beide Gesprächspartner sind Mitglied des Corona-Expertenrats der nordrhein-westfälischen Landesregierung.
- Die Medizinethikerin Christiane Woopen und IW-Direktor Michael Hüther sprechen im iwd-Interview über aktuellen Wellenbrecher-Lockdown und darüber, wie die Politik längerfristig mit der Pandemie umgehen sollte.
- Woopen wünscht sich technische Lösungen, um besser nachvollziehen zu können, wo Infektionen überhaupt stattfinden. Und sie plädiert für ein Gesetz, das das Problem der Triage-Entscheidungen regelt.
- Hüther hält den derzeitigen Teil-Lockdown mit Blick auf die Wirtschaft für besser verkraftbar als einen harten Lockdown wie im Frühjahr. Für die Zukunft geht er davon aus, dass die Pandemie die Arbeitswelt weniger stark verändern wird, als viele glauben.
Seit Anfang November ist der „Wellenbrecher-Lockdown“ in Kraft, der nach IW-Berechnungen 20 Milliarden Euro Wirtschaftsleistung kosten könnte. Ist es das wert?
Woopen: Ich finde die Idee des Wellenbrecher-Lockdowns gut, weiß aber nicht, ob sie angemessen umgesetzt wurde. Eine Reduktion der Kontakte scheint ja ein Gebot der Stunde zu sein, ob man sich dafür aber die richtigen Sektoren ausgesucht hat, bezweifele ich. Denn ich gehe nicht davon aus, dass in Museen oder in Theatern eine nennenswerte Anzahl von Infektionen stattgefunden hat.
Ich empfinde es als großes Problem, dass angesichts von 75 Prozent nicht zuordenbarer Infektionen nicht viel kraftvoller versucht wird herauszufinden, wo die Infektionen tatsächlich stattfinden. Denn dann könnte man die Maßnahmen gezielter und verhältnismäßiger zuschneiden.
Teststrategien sind ein wesentliches Element einer Pandemiebekämpfung.
Und ich halte es für ausgesprochen wichtig, zusätzlich zu der Notwendigkeit von Einschränkungen viel mehr an Ermöglichungen zu arbeiten. Es wird fast immer nur über Impfungen gesprochen, dabei sind etwa Teststrategien ein wesentliches Element einer Pandemiebekämpfung.
Hüther: Ich bin sicherlich kein Fan des Wellenbrecher-Lockdowns, aber dass Ende Oktober etwas getan werden musste, war offensichtlich. Allerdings hat die Politik bereits im Sommer viel versäumt: Die Digitalisierung ist weder in den Gesundheitsämtern noch in den Schulen wirklich vorangetrieben worden, viele Schulen haben bis heute kein WLAN. Und warum hat man für die Schulen keine Lüftungsanlagen gekauft? Die hätte man doch beginnend mit den Sommerferien in den Klassenräumen anbringen können.
Harter versus teilweiser Lockdown
Wäre ein kompletter Lockdown für die Wirtschaft besser zu verkraften als das Durchhangeln, das die Bundesregierung zurzeit betreibt?
Hüther: Nein, denn in einer vernetzten Ökonomie liegen bei einem harten Lockdown auch alle Lieferbeziehungen in Wartestellung, und diese samt der komplexen Wertschöpfungsketten wieder hochzufahren, ist eine große Kraftanstrengung. Da ist es besser, die Lieferbeziehungen für einen längeren Zeitraum begrenzt runterzufahren, als sie für kurze Zeit ganz abzuwürgen. Dass Deutschland sich vergleichsweise gut aus seinem Lockdown im Frühjahr herausgearbeitet hat, lag übrigens auch daran, dass China einen zweimonatigen Vorlauf hatte: Die Wirtschaft dort lief also schon längst wieder, als wir hier öffneten. Das hat unseren Export begünstigt.
Anders als im Frühjahr bleiben Schulen und Kitas jetzt offen, obwohl dort immer mehr Infektionen auftreten. Lässt sich dies noch lange rechtfertigen?
Woopen: Leider fehlen für die Steuerung bundesweit verlässliche Zahlen. In Nordrhein-Westfalen gibt es immerhin aktuelle Zahlen darüber, wie viele Schülerinnen und Schüler Präsenzunterricht haben – am 9. November traf dies für rund 95 Prozent zu.
Hüther: Die eigentliche Frage lautet doch: Wie managt man so ein Risiko längere Zeit im Alltag?
Wir müssen lernen, dass nicht nur der Staat das Leben in der Pandemie für uns organisiert, sondern es am Ende auf unser aller Verhalten ankommt.
Das hat – bewusst und unbewusst – die Infektionsketten ausgelöst nach der Sommerpause: Feiern, Großhochzeiten, gemeinsames Singen. Und selbst bei aller Achtsamkeit kann es ja zu Infektionen kommen. Wir können das Risiko, das wir für andere darstellen, nun mal nicht auf null setzen.
Woopen: Ich bin noch nicht bereit, den rasanten Anstieg der Infektionen auf das unverantwortliche Verhalten Einzelner zurückzuführen, wie es oft heißt. Auch ich kann mir nicht vorstellen, dass die Zahl der Ansteckungen allein auf schuldhaftes Fehlverhalten zurückgeht. Da müssen noch andere Faktoren hinzukommen. Deshalb wünsche ich mir technische Lösungen, um den Ort der Infektion identifizieren zu können. Wir brauchen eine Übersicht über die epidemiologische Entwicklung: Wo findet eigentlich was statt? Und das ist technisch möglich, auch unter weitgehender Wahrung der Privatheit. Wenn man weiß, wo die Infektionen stattfinden, kann man Maßnahmen passgenauer zuschneiden.
Triage-Entscheidungen vermeiden
Frau Woopen, wird es uns denn gelingen, die Überlastung des Gesundheitssystems diesen Winter zu verhindern?
Woopen: Es wird viel dafür getan. Der eigentliche Flaschenhals ist jedoch das Pflegepersonal.
Wichtig wäre es meines Erachtens, ein Gesetz für Triage-Entscheidungen auf den Weg zu bringen – also darüber, wie mit knappen, lebensnotwendigen Ressourcen umgegangen wird.
Der Gesetzgeber muss die zulässigen und unzulässigen Kriterien für die Zuteilung von Überlebenschancen definieren.
Darin sollten sozialrechtlich Ausgleichsmechanismen für die Krankenhäuser bei epidemischen Notlagen zugesichert werden, damit sie intensivmedizinische Kapazitäten zur Vermeidung von Triage-Entscheidungen bereithalten können. Zweitens muss der Gesetzgeber die zulässigen und unzulässigen Kriterien für die Zuteilung von Überlebenschancen definieren und dabei unterschiedliche Situationen unterscheiden: Es macht aus meiner Sicht ethisch einen Unterschied, ob zwei Patienten gleichzeitig eingeliefert werden und lediglich ein Beatmungsgerät zur Verfügung steht oder ob keines mehr für einen neuen Patienten vorhanden ist und darüber entschieden werden muss, ob man einem bereits beatmeten Patienten ein Gerät wegnimmt. Drittens würde man mit einem solchen Gesetz einem Team von Ärzten und Pflegern, das solche dramatischen Entscheidungen treffen muss, Rückendeckung geben.
Diese Entscheidungen müssen Mediziner und Sanitäter heute doch auch schon treffen, beispielsweise bei einem Massenunfall.
Woopen: Für solche Notfälle wie bei Naturkatastrophen oder Kriegen gibt es klare Regeln mit einem Stufenprinzip. Da geht es nach der Überlebenschance sowie der Schwere und Dringlichkeit der Versorgung.
Warum wendet man diese Regeln nicht auch in Krankenhäusern an, wenn diese aufgrund der Pandemie überfüllt sind?
Woopen: Weil es hier nicht um 100 oder 1.000 Menschen gleichzeitig geht, sondern um eine feingliedrigere Abwägung, oft zwischen nur zwei oder drei Menschen, über die man zusätzliche Informationen hat. Das Risiko, dass dadurch ungerechtfertigt benachteiligende Kriterien herangezogen werden, kann in so einer Situation höher sein.
Schutz der Risikogruppen
Herr Hüther, Sie plädieren im Umgang mit der Pandemie dafür, in erster Linie vulnerable Personengruppen zu schützen. Viele finden so eine Strategie unsolidarisch.
Hüther: Damit ist ja nicht gemeint, dass man diese Personengruppen isoliert, sondern dass beispielsweise Besucher oder Personal in Altenheimen routinemäßig mit Schnelltests auf eine Infektion hin überprüft werden. Dafür kluge Lösungen zu entwickeln, ist ein wichtiger Teil der Strategie.
Woopen: Es geht ja auch nicht nur um die Älteren, in der Bevölkerung zählen insgesamt zwischen 30 und 40 Prozent zu den vulnerablen Gruppen, insbesondere Menschen mit bestimmten Vorerkrankungen. Neben Schnelltests sollten diesen Personen auch kostenlos FFP2-Masken zur Verfügung gestellt werden. Das wäre ein weiterer Fortschritt zur Risikoreduktion. Diese präventiven Maßnahmen liegen mir viel mehr am Herzen als Einschränkungen.
Warum setzt die Politik diese präventiven Maßnahmen so zögerlich um?
Woopen: Dafür gibt es wohl keine einfache Erklärung, das ist komplex. An der ein oder anderen Stelle wird es an einzelnen Personen hängen, generell ist mein Eindruck allerdings, dass die Politik eher noch im Modus der situationsbezogenen Reaktion gefangen ist. Auch jetzt wird nicht über das nächste halbe Jahr gesprochen, dabei ist doch wohl allen klar, dass im Dezember nicht alle Einschränkungen wegfallen werden.
Hüther: Die Logik von Politik steht einem solchen Krisenmanagement über einen längeren Zeitraum im Wege.
Zum Krisenmanagement gehört auch die sichere Versorgung mit Medizinprodukten und Medikamenten. Sollte die Produktion wieder nach Europa oder gar nach Deutschland zurückgeholt werden?
Woopen: Genau das ist einer der zentralen Punkte, die der Europäische Ethikrat in einer gemeinsamen Stellungnahme zum Thema „Improving Pandemic Preparedness and Management“ herausgegeben hat: europäische Souveränität herzustellen – und zwar hinsichtlich der Produktions- und Vorhaltekapazitäten sowie der Koordinierung der Mitgliedsstaaten, auch hinsichtlich der Forschung.
Hüther: Wenn der Welthandel offen ist, ist die Produktion von Arzneimitteln im Ausland kein Problem. Wie schnell das dann doch zum Problem werden kann, haben wir im Frühjahr gesehen, als die Grenzen geschlossen wurden.
Fünf Tage Homeoffice die Woche ist keine Alternative.
Die Vorsorgestrategie beim Thema Arzneimittel auf die europäische Ebene zu verlagern, halte ich auch für die richtige Strategie.
Dass das gelingen kann, zeigt das europäische Rettungspaket von 540 Milliarden Euro, das bereits im April aufgelegt wurde. Konstitutionell sind wir da auf europäischer Ebene schneller zu einem Durchbruch gekommen als in der Zusammenarbeit von Landeskompetenz und kommunaler Verantwortung. Hamburg ist in dieser Hinsicht ein Leuchtturm, da werden die Bürger besonders gut regiert, weil Stadt- und Landeskompetenzen dort in einer Hand sind und in klügster Weise genutzt werden.
Die Zukunft der Arbeitswelt
Wie wird sich die Arbeitswelt durch die Coronakrise verändern?
Hüther: Weniger, als manche jetzt denken. Fünf Tage Homeoffice die Woche ist auch keine Alternative. Das würde uns in eine vormoderne Welt ohne Arbeitsteilung zurückführen. Hinzu kommt, dass nicht alle Beschäftigten im Homeoffice arbeiten können - das führt auch zu enormen Konsequenzen in produzierenden Unternehmen, schlimmstenfalls zu einer Spaltung der Belegschaft.Aber ich erwarte, dass der Ort des Arbeitens neue Formen haben wird. Dass jedoch viele Unternehmen gleich ihre Büroimmobilien verkaufen, wage ich zu bezweifeln.
Woopen: Ich beobachte, dass grundsätzlichere Ideen wie etwa das bedingungslose Grundeinkommen stärker diskutiert werden. Die Idee gibt es ja schon lange, aber sie hat nicht mehr diesen „Iiiih!-Baaaah!-Geschmack“. Wir sind zwar kulturell noch nicht so weit, aber wenn jeder seine Talente einsetzen könnte, statt einem Job nachgehen zu müssen, das wäre doch toll.