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Ziehen die Unternehmen dem grünen Strom hinterher?

Damit Deutschland seine langfristigen Klimaziele erreicht, müssen die erneuerbaren Energien stark ausgebaut werden. Inwieweit grüner Strom für die Unternehmen im Land ein zentraler Standortfaktor ist und ob sie für eine gesicherte Versorgung sogar einen Umzug in Betracht ziehen, hat das Institut der deutschen Wirtschaft untersucht.

Kernaussagen in Kürze:
  • Bis 2045 will Deutschland klimaneutral sein. Das geht nicht ohne den massiven Ausbau der erneuerbaren Energien.
  • Die Unternehmen in Deutschland sehen die besten Voraussetzungen für den eigenen Bezug von grünem Strom laut IW-Befragung im Norden des Landes.
  • Die deutschen Firmen rechnen damit, dass künftig gut ein Viertel ihrer Zulieferer von energieintensiven Vorprodukten den Standort wegen der Verfügbarkeit von erneuerbaren Energien ins EU-Ausland verlegt.
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Bis 2045 will Deutschland klimaneutral sein. Eines ist klar: Ohne die erneuerbaren Energien im Land massiv auszubauen, wird das Ziel nicht zu erreichen sein. Die Abkehr von fossilen Rohstoffen bietet neben den klimatischen Effekten weitere Vorteile. So sinkt durch mehr selbst erzeugten grünen Strom die Abhängigkeit von anderen Staaten. Außerdem ist erneuerbare Energie kostengünstiger zu produzieren als fossile, was der deutschen Wirtschaft im internationalen Wettbewerb zugutekommt.

Das IW hat daher in einer Studie – gemeinsam mit EPICO KlimaInnovation und der Stiftung KlimaWirtschaft – untersucht, welchen Einfluss der Ausbau erneuerbarer Energien auf die Wahl des Unternehmensstandorts haben kann.

Zunächst identifizierten die Forscher jene Branchen, die den größten Energiebedarf haben. Sie werden den ökologischen Wandel am stärksten spüren und müssen sich am meisten verändern. In Deutschland stechen die energieintensiven Grundstoffbranchen heraus:

Das Erzeugen und Verarbeiten von Metallen, von chemischen Produkten sowie von Glas, Steinen und Erden ist sehr energieintensiv.

Die relativ gesehen meiste Energie benötigt die Zement-, Kalk- und Gipsbranche – mehr als 10 Prozent beträgt der Energieverbrauch gemessen an der Bruttowertschöpfung der Branche. Die Hersteller von Chemiefasern, von keramischen Baumaterialien und von Roheisen und Stahl kommen auf einen Anteil zwischen 8,5 und 8,8 Prozent. Aber auch andere Branchen wie die Papierindustrie stehen angesichts ihrer energieintensiven Produktion vor großen Herausforderungen.

Die besten Voraussetzungen für die eigene Versorgung mit grünem Strom sehen die Unternehmen in Deutschland derzeit mit deutlichem Abstand im Norden des Landes.

Vor dem Hintergrund des ökologischen Wandels ist davon auszugehen, dass der Standortfaktor erneuerbare Energie für die Betriebe eine immer größere Rolle spielen wird. Doch was genau planen die Unternehmen mit Blick auf die Standortfrage und die ökologische Wende? Das hat das IW mithilfe seines Zukunftspanels im Frühjahr 2023 ermittelt:

Gut 34 Prozent der befragten Firmen haben bereits genau geplant, wie sie bis 2045 klimaneutral werden wollen. Knapp ein Viertel will damit aber erst nach 2030 starten.

Fast sechs von zehn Unternehmen gehen davon aus, das eigene Geschäftsmodell erst nach dem Jahr 2030 vollständig an die Klimaziele anpassen zu können. Erwartungsgemäß sind Firmen aus dem Dienstleistungssektor schon weiter als die Industrie, die zum Teil ganze Fertigungs- und Arbeitsprozesse aufwendig umstellen muss.

Gerade für die energieintensiven Branchen spielt bei der Transformation die Versorgung mit günstiger Energie eine zentrale Rolle. Unter dieser Prämisse ist es interessant zu betrachten, in welchen Regionen des Landes die Firmen die besten Chancen dafür sehen (Grafik):

Knapp 79 Prozent der Unternehmen bewerten Norddeutschland als gut bis sehr gut mit Blick auf die Frage, ob die eigene mittelfristige klimaneutrale Energieversorgung von dort – über die direkte Erzeugung vor Ort oder den Bezug über Leitungs- und Importinfrastrukturen – sichergestellt ist.

So bewerten Unternehmen in Deutschland die Bedeutung dieser Regionen mittelfristig für die eigene klimaneutrale Energieversorgung Download: Grafik (JPG) herunterladen Grafik (EPS) herunterladen Tabelle (XLSX) herunterladen

Deutlich schlechter sehen die Firmen die Situation in Süddeutschland – lediglich 30 Prozent meinen, die Region sei bezüglich grüner Energie auf lange Sicht gut aufgestellt und könnte das eigene Unternehmen beliefern.

Das hat Folgen: Mehr als 47 Prozent der Firmen rechnen damit, dass zumindest einige wenige ihrer Lieferanten von energieintensiven Produkten den Firmensitz innerhalb der Bundesrepublik verlagern könnten. Knapp 14 Prozent sagen einen entsprechenden Umzug sogar für viele oder sogar all ihre energieintensiven Zulieferbetriebe voraus.

Mit Blick auf solche Lieferanten, die mit weniger Energie auskommen, erwartet gut ein Drittel der befragten Firmen, dass diese Zulieferer den Standort innerhalb der Landesgrenzen verlagern.

Dass es Geschäftspartner ins inner- oder sogar außereuropäische Ausland zieht, ist aus Sicht der Unternehmen allerdings noch wahrscheinlicher als der Umzug innerhalb Deutschlands (Grafik):

27 Prozent der Unternehmen rechnen damit, dass viele oder alle ihrer energieintensiven Zulieferer Standorte ins EU-Ausland verlegen. 24 Prozent gehen sogar von einem Wechsel in andere Regionen der Welt aus.

Erwartungen deutscher Unternehmen zu Standortverlagerungen von Firmen aus verschiedenen Bereichen aufgrund einer woanders besseren Verfügbarkeit von erneuerbarer Energien Download: Grafik (JPG) herunterladen Grafik (EPS) herunterladen Tabelle (XLSX) herunterladen

In geringerem Maß erwarten die Firmen entsprechende Abwanderungen auch von ihren weniger energieintensiven Lieferanten: Jede siebte Firma geht von Verlagerungen im großen Stil innerhalb der EU aus; gut jede achte rechnet mit weltweiten Umzügen. Standortwechsel anderer Betriebe der eigenen Branche halten allerdings nur 6 Prozent der Unternehmen für wahrscheinlich.

Über den Faktor Energieversorgung hinaus gibt es natürlich noch weitere Aspekte, die darüber entscheiden, wie attraktiv eine Region innerhalb Deutschlands für Unternehmen ist. So gaben mehr als 87 Prozent der Betriebe in einer IW-Befragung vom Frühjahr 2023 an, dass für sie die Verfügbarkeit von Fachkräften wichtig ist. Ebenfalls einen hohen Stellenwert hat eine gute Transportinfrastruktur, die sechs von zehn Unternehmen als sehr relevant empfinden. Hinzu kommt die wachsende Bedeutung einer guten digitalen Infrastruktur.

Da diese Faktoren in der Regel zusammengenommen beeinflussen, wo sich Unternehmen ansiedeln, haben die IW-Forscher einen Index entwickelt, um den Status quo in den deutschen Bundesländern zu ermitteln (Grafik):

Hamburg hat derzeit die besten Standortbedingungen, gefolgt von Nordrhein-Westfalen.

Index mit den Standortfaktoren erneuerbare Energien, Fachkräfte, Digitalisierung und Verkehrsinfrastruktur Download: Grafik (JPG) herunterladen Grafik (EPS) herunterladen Tabelle (XLSX) herunterladen

Der Index offenbart ein starkes West-Ost-Gefälle. Brandenburg belegt in der Gesamtbetrachtung als bestes Bundesland aus dem Osten der Republik – Berlin außen vor gelassen – lediglich den achten Platz.

Beim Blick auf den Faktor erneuerbare Energien sind die Bedingungen in Niedersachsen besonders gut, neben den Stadtstaaten schneiden Sachsen, Thüringen und das Saarland hier schlecht ab.

Unterm Strich zeigt die IW-Studie, dass viele Faktoren, nicht zuletzt aber die Energieversorgung – vor allem mit Blick auf die nationalen und internationalen Klimaziele – für künftige Standortentscheidungen eine wichtige Rolle spielen. Da energieintensive Produzenten dem günstigen grünen Strom hinterherziehen könnten, besteht dringender Handlungsbedarf für die deutsche Standortpolitik:

Erneuerbare Energien stärken. Ein konsequenter und schneller Ausbau ist dringend nötig. Dies betrifft auch die zugehörigen Leitungs-, Speicher- und Importinfrastrukturen, unter anderem für Wasserstoff. Vor allem im Süden Deutschlands muss mehr getan werden, um die bestehenden Industriestandorte nachhaltig mit Energie zu versorgen.

Transformation vorantreiben. Die Politik kann die Firmen bei ihrem Wandel unterstützen, etwa indem sie beispielsweise die Stromsteuer senkt. Außerdem ist der Abbau von bürokratischen Hürden und die Beschleunigung von Genehmigungsverfahren für neue Anlagen sowie nötige Umbauten von Maschinen und Hallen ein zentraler Ansatzpunkt. Dadurch können Firmen zudem animiert werden, ihren Strom ganz oder zum Teil selbst zu produzieren, effizienter zu nutzen oder vorzuhalten.

Wettbewerbsfähigkeit sichern. Das Straßennetz, die Verfügbarkeit von Fachkräften und die digitale Infrastruktur sind neben der Energieversorgung zentral für die Wahl eines Unternehmensstandorts. Der Staat muss deshalb Jahr für Jahr viele Milliarden Euro mehr in die Hand nehmen, um Transportwege zu modernisieren, die Bildungsinfrastruktur zu stärken und die digitale Infrastruktur umfassend zu verbessern.

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