Interview Lesezeit 7 Min.

„Wir haben kurzfristig zu wenig Alternativen zu russischem Gas“

Seitdem Russland einen Krieg mit der Ukraine angefangen hat, zeigt sich, wie heikel es für Deutschland ist, wenn mehr als die Hälfte eines so wichtigen Rohstoffs wie Erdgas aus nur einem Lieferland stammt. Welche Auswirkungen eine Gasknappheit auf die heimische Wirtschaft hätte und ob die Verlängerung der Laufzeiten der deutschen Atomkraftwerke helfen könnte, die Energiekrise zu lösen, erklärt IW-Geschäftsführer Hubertus Bardt.

Kernaussagen in Kürze:
  • Deutschland habe sich mit seinen hohen Gasimporten zu abhängig von Russland gemacht, sagt IW-Geschäftsführer Hubertus Bardt. Wäre die Abhängigkeit geringer, könnten die Sanktionen gegen Russland noch wirkungsvoller gestaltet werden.
  • Die höheren Rohstoffpreise und die Lieferengpässe aufgrund des Kriegs in der Ukraine heizten die Inflation in Deutschland weiter an, so Bardt.
  • Vergleichsweise wenig Sorgen macht sich Bardt über die eventuell steigende öffentliche Verschuldung. Viel schwerer wiegt seiner Meinung nach der Wohlstandsverlust, der durch eine mögliche Wirtschaftskrise entstehen könnte.
Zur detaillierten Fassung

Deutschland bezieht mehr als die Hälfte seines Erdgases aus Russland. Haben wir uns zu abhängig gemacht?

In der augenblicklichen Situation muss man sagen: ja. Würden wir jetzt weniger Gas aus Russland beziehen oder könnten es leichter ersetzen, dann hätte man einen ganz anderen Handlungsspielraum, um die Sanktionen gegen Russland noch wirkungsvoller zu gestalten, als sie es jetzt sind. Und die wirtschaftlichen Schäden für Deutschland wären nicht so groß.

Was wäre wirkungsvoller?

Ein kurzfristiger Verzicht auf russische Gasimporte wäre natürlich eine starke Sanktion. Aber wir müssen auch sehen, welche enormen Konsequenzen das für die Preise und für die Versorgung hätte. Eine Sanktion, die am Ende nicht durchgehalten werden kann, weil die Rückwirkungen zu groß sind, wäre in jeder Hinsicht kontraproduktiv. Schon heute sind die gestiegenen Energiepreise für Unternehmen eine massive Belastung.

Beschert der Ukraine-Krieg Deutschland ein Revival der fossilen Brennstoffe?

Gas ist als Übergangsenergie in die dekarbonisierte Zeit präferiert worden, um den Kohleausstieg schnell voranzubringen und um die Schwankungen der erneuerbaren Energien ausgleichen zu können. Und je stärker wir erneuerbare Energien nutzen, desto weniger Gas brauchen wir. Was wir allerdings jetzt feststellen können, ist, dass die Gesamtkomposition, also der Mix der Energieträger, mit dem während der Energiewende die Versorgungs-sicherheit gewährleistet werden sollte, durch den Krieg in der Ukraine infrage gestellt worden ist.

Hubertus Bardt ist Geschäftsführer im Institut der deutschen Wirtschaft; Foto: IW Es wird ja auch bereits über die Verlängerung der Laufzeiten für deutsche Atomkraftwerke diskutiert.

Es geht um die drei Kernkraftwerke, die Ende 2022 abgeschaltet werden sollen, und dazu hört man sehr unterschiedliche Auffassungen, was ganz praktisch geht und was nicht geht. Mit Blick auf den nächsten Winter und das Risiko, dass Gaslieferungen aus Russland ausfallen können, müssen alle Optionen auf den Tisch. Und dazu gehört neben dem Weiterbetrieb der Kohlekraftwerke, dem beschleunigten Ausbau der erneuerbaren Energien, der Steigerung der Flüssiggasimporte, einer stärkeren Gasproduktion in den Niederlanden und in Norwegen eben auch die Frage nach der längeren Nutzung der bestehenden Kernkraftwerke. Ich bin nicht sicher, ob man die wirklich braucht, sie müssen aber zumindest als Option mit ins Portfolio. Wenn sich dadurch die Laufzeiten um wenige Monate verlängern sollten, ist damit ja auch nicht der Kernenergieausstieg infrage gestellt.

Falls es trotzdem zu Versorgungsengpässen kommen sollte: Welche praktischen Konsequenzen hätte das? Sitzen wir womöglich demnächst in kalten Wohnungen?

Wir hatten 2008/2009 schon einmal Einschränkungen der Gaslieferungen über die Ukraine. Damals floss auch sehr viel weniger Gas aus Russland und plötzlich waren die Heizungen in Südosteuropa aus und auf dem Balkan saßen Menschen im Kalten. Doch seitdem ist in der EU viel passiert: Die Gasspeicher sind deutlich vergrößert worden, es gibt mehr Häfen, in denen Flüssiggas angelandet werden kann, und es ist besser möglich, Gas von West nach Ost zu transportieren. All diese Fortschritte sind allerdings noch nie in so einen Stresstest geraten und es gibt nach wie vor eine Menge Engstellen.

Russland ist als Absatzmarkt für deutsche Unternehmen nicht so entscheidend. Aber trotzdem leidet die deutsche Wirtschaft unter dem russischen Krieg in der Ukraine.

Wenn wirklich zu wenig Gas verfügbar sein sollte, dann wird zuerst geguckt, wie man Gas in der Stromwirtschaft ersetzen kann – zum Beispiel indem Kohlekraftwerke stärker genutzt werden. Das Potenzial ist aber nicht groß, da viele Kraftwerke gleichzeitig Wärme erzeugen müssen. Zweitens wird die Industrie irgendwann bei zu hohen Energiepreisen aussteigen, was zu Produktionsausfällen führt und unter dem Strich Wohlstandsverluste mit sich bringt. Und als Drittes kommt die Gruppe der Privathaushalte, die in den Krisenplänen am besten abgesichert ist und daher am wenigsten mit Abschaltungen rechnen muss. Aber auch die Verbraucher müssen sich auf deutlich höhere Energiepreise einstellen und überlegen, wie sie durch bewussteres Heizen weniger Energie verbrauchen können.

Weil Gas für die EU so schwierig zu ersetzen ist, wird auch gerade diskutiert, ob man ein Ölembargo gegen Russland verhängen soll – wie es die USA ja bereits beschlossen haben. Denn Öl ist auch von hoher Bedeutung für den russischen Export und damit für den Staatshaushalt. Doch anders als beim pipelinegebundenen Gas gibt es beim Öl mehr Möglichkeiten, sich auf dem Weltmarkt anderweitig zu versorgen. Aber auch das wird schwierig und teuer.

Gegen Russland ist ja bereits eine Vielzahl von Sanktionen in Kraft. Wann beginnen sie zu wirken?

Die Sanktionen wirken schon! Der Rubel ist abgestürzt, das Warenangebot ist eingeschränkt, viele westliche Unternehmen produzieren nicht mehr in Russland oder liefern nicht mehr dorthin. Allerdings ist vor allem der Energieexport für die Staatsfinanzierung Russlands von hoher Bedeutung und der ist ja bislang im Wesentlichen nicht sanktioniert.

Wie ließen sich denn die bislang beschlossenen Sanktionen noch nachschärfen?

Schon heute sind die Sanktionen erdrückend für die russische Volkswirtschaft. Sicherlich könnte die Liste der sanktionierten Oligarchen weiter verlängert werden. Ansonsten sind wir bei der Frage der Energieexporte mit kaum kalkulierbaren Risiken.

Was ich aber jenseits der politischen Einflussnahme bemerkenswert finde: Es wurden Zeichen gesetzt und Kontakte auf Eis gelegt – angefangen beim Fußball bis hin zu den Unternehmen, die sich auch ohne gesetzlichen Zwang aus Russland zurückgezogen haben, nicht mehr dorthin liefern oder ihre russischen Niederlassungen zugemacht haben. All das verstärkt die Wirkung von Sanktionen.

Welche Branchen der deutschen Wirtschaft – abgesehen vom Energiesektor – sind aufgrund enger Geschäftsbeziehungen zu Russland besonders vom Konflikt betroffen?

Russland ist als Absatzmarkt für deutsche Unternehmen nicht so entscheidend. Aber trotzdem leidet die deutsche Wirtschaft unter dem russischen Krieg in der Ukraine. Wir sehen viele Betriebe, denen jetzt aufgrund des Kriegs notwendige Teile fehlen – wie die Autohersteller, bei denen die Bänder stillstehen, weil plötzlich Kabelbäume aus der Ukraine fehlen. Auch Rohstofflieferungen fallen aus, Ersatz ist schwer zu beschaffen und teuer. Besonders schwierig ist es auch für Unternehmen, die viel Energie – insbesondere Gas – verbrauchen. Der Kostenanstieg ist brutal.

Gibt es denn Ausweichmöglichkeiten für diese Firmen?

Das ist für alle betroffenen Unternehmen eine ungemein große Herausforderung. Kurzfristige Alternativen gibt es oft nicht, die müssen erst entwickelt werden. Natürlich gibt es für viele Rohstoffe auch alternative Bezugsquellen, aber diese Länder haben nicht unbedingt die nötigen freien Kapazitäten, um das russische Angebot auf die Schnelle zu ersetzen – schon gar nicht zu den bisherigen Preisen. Das ist schon ein ziemlicher Einschnitt, wenn so riesige Länder wie Russland als Handelspartner wegfallen.

Und was auch noch problematisch werden kann, ist die Versorgung mit Weizen. Russland und die Ukraine sind große Weizenproduzenten mit hohen Weltmarktanteilen. Auch hier steigen die Preise – und damit auch für andere Lebensmittel. Bei uns in Deutschland mögen gut situierte Haushalte das nur als lästig empfinden, wenn das Brötchen teurer wird, aber es gibt Einkommensgruppen und ganze Weltregionen, wo höhere Nahrungsmittelpreise schwerwiegende Probleme verursachen.

Worauf müssen wir uns denn in puncto Preissteigerungen gefasst machen?

Allein der höhere Gaspreis zu Beginn des laufenden Jahres heizt die Inflation in Deutschland um einen guten halben Prozentpunkt im gesamten Jahr 2022 an, im nächsten Jahr voraussichtlich um zweieinhalb gegenüber einem Basisszenario, in dem der Gaspreis im Laufe dieses Jahres um ein Viertel zurückgeht. Und je höher der Gaspreis, desto stärker die Aufschläge. Wohlgemerkt: In dieser Berechnung sind der höhere Ölpreis, andere Rohstoffe, Preisauftriebe durch Produktionsengpässe, die höheren Lebensmittelpreise und alles Weitere, was sich verteuern wird, noch gar nicht berücksichtigt.

Was bedeutet das für das Wachstum unserer Wirtschaft?

Diese Entwicklung wird zumindest den Aufholprozess nach den beiden Corona-Jahren ziemlich dämpfen. Allein die höheren Energiepreise schränken die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen massiv ein, hinzu kommen die Lieferketten-probleme, die nun erneut aufgrund eines externen Auslösers auftreten. Es wurden deswegen in der Automobilindustrie schon wieder Schichten abgesagt, das ist natürlich ein Warnsignal. Wenn zum Beispiel das Edelgas Neon aus Russland fehlt, das für die Halbleiterproduktion benötigt wird, verschärfen sich die Wachstumsbremsen noch weiter. Und neue kommen hinzu.

Auf die steigenden Preise reagiert die Politik bereits mit Entlastungen. Hinzu kommen weitere Ausgaben wie für die Bundeswehr und die Aufnahme von Flüchtlingen. Kann Deutschland all das finanziell stemmen?

Über diese Ausgaben des Bundes mache ich mir im Augenblick am wenigsten Sorgen. Selbst wenn all diese Ausgaben vorübergehend zu einer höheren öffentlichen Verschuldung führen, ist das leistbar. Der Wohlstandsverlust durch eine mögliche Wirtschaftskrise wiegt viel schwerer.

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