Arbeitskräftepotenzial Lesezeit 6 Min.

Wie Deutschland die Arbeitszeiten steigern kann

Die Zahl der Erwerbspersonen wird in Deutschland in den kommenden Jahren demografiebedingt deutlich sinken. Umso wichtiger sind Überlegungen, wie sich das Arbeitsvolumen halten oder sogar steigern lässt. Orientieren könnte sich Deutschland dabei einer neuen IW-Studie zufolge an Ländern wie Schweden oder der Schweiz.

Kernaussagen in Kürze:
  • Weil die Zahl der Erwerbspersonen in Deutschland demografiebedingt sinken wird, braucht es neue Wege, um das Arbeitsvolumen zu halten oder sogar zu steigern.
  • Ein Blick in die Schweiz und nach Schweden zeigt, was möglich ist: Wenn die Erwerbstätigenquote und die Arbeitszeiten auf das dortige Niveau angehoben werden können und zudem das Problem der unfreiwilligen Teilzeit gelöst wird, könnte Deutschland ein um 7,23 Milliarden Stunden höheres Arbeitsvolumen erzielen.
  • Dazu muss aber der Gesetzgeber aktiv werden und die Tarifpartner müssen einsehen, dass mehr Arbeitsstunden pro Woche und wenige Urlaub nötig sein werden.
Zur detaillierten Fassung

In den 2010er Jahren stiegen die Zahl der Beschäftigten und auch die Löhne in Deutschland fast kontinuierlich, was maßgeblich dazu beitrug, den Staatshaushalt zu konsolidieren. Doch seit Anfang 2020 ist dieser Trend gestoppt. Und selbst wenn die Corona-Krise in absehbarer Zeit überwunden sein wird, steht der Arbeitsmarkt vor der großen Herausforderung, den demografischen Wandel zu kompensieren:

Laut einer Schätzung des Statistischen Bundesamts wird die Zahl der 20- bis 64-Jährigen, die dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen, im Jahr 2030 bereits um vier Millionen unter dem Niveau von 2019 liegen.

Zwar dürften weiterhin Zuwanderer nach Deutschland kommen und die Erwerbsquoten hoch bleiben. Doch dies reicht nicht, um den entscheidenden negativen Effekt wettzumachen, dass die Generation der Babyboomer im Laufe dieses Jahrzehnts aus dem Arbeitsmarkt auszuscheiden beginnt.

Deutschland ist jedoch darauf angewiesen, ein hohes Arbeitsvolumen aufrechtzuerhalten – schon allein, um mit den Steuern und Sozialabgaben den coronabedingten Schuldenberg abzutragen und die Finanzierbarkeit der gesetzlichen Rentenversicherung zu gewährleisten. Außerdem ist Arbeit nach wie vor der beste Schutz vor Altersarmut.

Schweiz und Schweden zeigen, was möglich ist

Doch wie lassen sich zusätzliche Arbeitskräftepotenziale heben, wenn ökonomischen Studien zufolge sowohl bei der Zuwanderung als auch bei der Arbeitsproduktivität in den kommenden Jahren keine großen Sprünge zu erwarten sind und der Spielraum, die Lebensarbeitszeit zu erhöhen, mit der Anhebung der Regelaltersgrenze auf 67 Jahre vorerst ausgeschöpft ist?

Als Ansatzpunkte bleiben in erster Linie, die Erwerbsbeteiligung der Bundesbürger weiter zu steigern und die Arbeitszeiten auszudehnen.

Steigen die Erwerbstätigenquote und die Arbeitszeiten auf das jeweilige Niveau in der Schweiz und Schweden und wird das Problem der unfreiwilligen Teilzeit gelöst, könnte Deutschland ein um 7,23 Milliarden Stunden höheres Arbeitsvolumen erzielen.

Was in dieser Hinsicht noch möglich ist, zeigt ein Blick ins Ausland – und zwar in die Schweiz und nach Schweden. Beide Volkswirtschaften haben – im Kern ähnlich wie Deutschland – ein erfolgreiches Wirtschaftsmodell mit hoher Integration der Bevölkerung in den Arbeitsmarkt sowie einen Staat, der das soziale Gefälle ausgleicht. Zudem ähnelt die industrieorientierte Wirtschaftsstruktur der Schweiz derjenigen der Bundesrepublik. Hinsichtlich der für das Arbeitskräftepotenzial relevanten Indikatoren sind beide Länder aber zum Teil deutlich besser aufgestellt als Deutschland. Der Vergleich im Detail:

  1. Erwerbsbeteiligung. Die Erwerbstätigenquote – der Anteil der erwerbstätigen 20- bis 64-Jährigen an allen Personen dieser Altersgruppe – ist in Deutschland seit Mitte der 2000er Jahre stark gestiegen: von weniger als 70 Prozent auf 80,6 Prozent im Jahr 2019. Doch auch in Schweden und der Schweiz hat die Erwerbsbeteiligung weiter zugenommen – und sie lag kontinuierlich über dem deutschen Niveau.

Im Schnitt der Jahre 2010 bis 2019 betrug die Erwerbstätigenquote in Deutschland rund 78 Prozent, in Schweden 80,5 und in der Schweiz sogar 81,5 Prozent.

Ließe sich die Erwerbstätigenquote in Deutschland um 2,5 Prozentpunkte erhöhen, sodass die Lücke zu den Vergleichsländern zumindest annähernd geschlossen werden könnte, würde dies die Zahl der Erwerbstätigen um rund 1,25 Millionen steigen lassen.

Gemessen an der derzeitigen Jahresarbeitszeit je Erwerbstätigen von im Schnitt 1.472 Stunden könnte durch die höhere Erwerbsbeteiligung ein zusätzliches Arbeitsvolumen von 1,83 Milliarden Stunden pro Jahr entstehen.

Das ist beachtlich, lag doch das gesamtwirtschaftliche Arbeitsvolumen im Jahr 2019 lediglich um zwei Milliarden Stunden über dem Niveau von 1991.

  1. Jahresarbeitszeit. In beiden Vergleichsländern arbeiten die Menschen im Schnitt deutlich länger als in Deutschland (Grafik):

Die Zahl der Arbeitsstunden je Erwerbstätigen lag 2019 in Schweden mit 1.579 Stunden um 7 Prozent über dem deutschen Wert, in der Schweiz war die Jahresarbeitszeit sogar um 11 Prozent höher als in Deutschland.

Durchschnittliche Angaben für 15- bis 64-jährige Erwerbstätige im Jahr 2019 in Stunden Download: Grafik (JPG) herunterladen Grafik (EPS) herunterladen Tabelle (XLSX) herunterladen

Weil die Zahl der Feiertage und der betrieblich oder gesetzlich festgelegten Urlaubstage in beiden Ländern niedriger ist als hierzulande, fällt auch die Zahl der Arbeitswochen pro Jahr höher aus. Zudem verbringen vor allem die Erwerbstätigen in der Schweiz pro Woche mehr Zeit an ihrem Arbeitsplatz als die Bundesbürger – bei vollzeitbeschäftigten Männern zum Beispiel beträgt die Differenz mehr als drei Stunden.

Würde Deutschland hier entsprechend aufholen, ließe sich ein erheblich höheres Arbeitsvolumen mobilisieren (Grafik). Könnte Deutschland in Sachen Wochenarbeitszeit und Zahl der jährlichen Arbeitswochen zur Schweiz aufschließen, wären rund 7,7 Milliarden zusätzliche Arbeitsstunden pro Jahr möglich, bezogen auf Schweden wären es gut 1,3 Milliarden.

Der kombinierte Vergleich mit beiden Ländern zeigt, dass durch eine Angleichung der Jahresarbeitszeit das jährliche Arbeitsvolumen in Deutschland um fast 4,5 Milliarden Stunden steigen könnte.

Um so viele Millionen Stunden könnte die jährliche Arbeitszeit der 20- bis 64-jährigen Erwerbstätigen ausgedehnt werden, wenn sich Deutschland an der Schweiz und/oder Schweden orientieren würde Download: Grafik (JPG) herunterladen Grafik (EPS) herunterladen Tabelle (XLSX) herunterladen

Bei diesen Berechnungen wird angenommen, dass sich am Anteil der Teilzeitbeschäftigten nichts ändert.

Problem der unfreiwilligen Teilzeit lösen

Doch auch beim Thema Teilzeit gibt es einen Ansatzpunkt, um das Arbeitsvolumen in Deutschland auszudehnen – und zwar losgelöst vom Vergleich mit dem Ausland. Denn auch wenn sich immer mehr Erwerbstätige in Deutschland für einen Teilzeitjob entscheiden, geschieht dies teilweise nicht aus freien Stücken. Vor allem Frauen werden oft durch die Betreuung von Kindern oder sonstige familiäre oder persönliche Verpflichtungen davon abgehalten, Vollzeit zu arbeiten. Doch selbst wenn man dies außen vor lässt, resultiert ein erhebliches Maß an unfreiwilliger Teilzeit daraus, dass die Betreffenden schlicht keine passende Vollzeitstelle finden. Im Jahr 2019 galt dies für mehr als 15 Prozent der männlichen und gut 8 Prozent der weiblichen Teilzeitbeschäftigten.

Ließe sich dieses Maß an unfreiwilliger Teilzeit beseitigen, würde sich das Arbeitsvolumen in Deutschland um 691 Millionen Stunden jährlich erhöhen.

Unterm Strich ergibt sich aus all diesen Effekten ein beachtliches Arbeitskräftepotenzial, wie die Modellrechnung des IW für das Jahr 2019 zeigt (Grafik):

Steigen die Erwerbstätigenquote und die Arbeitszeiten auf das jeweilige Niveau in der Schweiz und Schweden und wird das Problem der unfreiwilligen Teilzeit gelöst, könnte Deutschland ein um 7,23 Milliarden Stunden höheres Arbeitsvolumen erzielen.

Tatsächliches und zusätzlich mögliches Arbeitsvolumen in Milliarden Stunden Download: Grafik (JPG) herunterladen Grafik (EPS) herunterladen Tabelle (XLSX) herunterladen

Berechnet man ein entsprechendes Szenario für das Jahr 2030, erscheint ein Arbeitsvolumen möglich, das um 2,17 Milliarden Stunden über dem Wert von 2019 liegt – trotz der gegenläufigen demografischen Effekte.

Gesetzgeber und Tarifpartner sind gefragt

Um dieses höhere Arbeitsvolumen tatsächlich zu mobilisieren, sind allerdings viele gesetzgeberische Initiativen und Einsicht aufseiten der Tarifpartner gefragt. Denn die Ausweitung der Jahresarbeitszeit wäre verbunden mit mehr Arbeitsstunden pro Woche, weniger Feiertagen, aber auch weniger Urlaub. Durchzusetzen wären solche Reformen nur, wenn sich die zusätzliche Arbeit für die Beschäftigten lohnen würde – was zum Beispiel entsprechende Steueranreize erfordert.

Zu den weiteren Voraussetzungen, um das Arbeitskräftepotenzial besser auszuschöpfen, gehören unter anderem Qualifizierungsmaßnahmen, die die Fachkräftebasis stärken – etwa indem die deutschen Sprachkenntnisse von Zugewanderten verstärkt gefördert werden und damit die Integration in den Arbeitsmarkt erleichtert wird. Außerdem braucht es mehr lebenslange Weiterbildungsangebote, damit zum Beispiel ältere Beschäftigte noch besser mit dem digitalen Wandel Schritt halten können. Durch einen weiteren Ausbau der Kinderbetreuungsinfrastruktur ließe sich vor allem die Erwerbstätigkeit von Frauen fördern.

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