„Schulstart nicht nur auf den Regelbetrieb fokussieren“
Jedes Jahr bewertet das IW die Bildungssysteme der deutschen Bundesländer für den INSM-Bildungsmonitor. So auch 2020. Doch in diesem Jahr ist alles anders – Corona hat schließlich auch vor den Schulen nicht haltgemacht. Im iwd-Interview erklärt Studienautor Axel Plünnecke, welche Schwächen Corona offenbart hat, wie Deutschland Abhilfe schaffen kann und an welchen Stellen er positiv überrascht war.
- Wie der Unterricht im Homeschooling verlaufen ist, lag zu einem großen Teil in der Eigenverantwortung der Lehrkräfte, sagt Axel Plünnecke.
- Der Bildungsexperte macht aber auch das Bildungssystem dafür verantwortlich. Seiner Ansicht nach fehlte es durch den Kaltstart an vielen Stellen an Hardware, Software und Weiterbildung.
- Vor allem digitale Lernkonzepte müssten nun stärker in Angriff genommen werden.
Nach den Ergebnissen des Bildungsmonitors ist Sachsen zum 15. Mal Spitzenreiter im Vergleich der Bundesländer. Auch Bayern und Thüringen sind Daueranwärter auf die vorderen Plätze. Was machen diese Bundesländer besser als andere?
Sachsen und Bayern sind in allen bisherigen Kompetenztests sehr gut. Mathe, Naturwissenschaften, Lesen – nur wenige Schüler erreichen in diesen Fächern nicht die Mindeststandards. Bayern ist zudem führend in der beruflichen Bildung. Sie haben dort ein tolles Ausbildungsstellenangebot und nur wenige Jugendliche bleiben unversorgt. In Thüringen dagegen sind zum Beispiel die Betreuungsbedingungen ideal: Auf eine Lehrkraft kommen rechnerisch wenige Schüler und es gibt, wie in Sachsen, viele Ganztagsschulen.
Aber auch andere Bundesländer haben dazugelernt, etwa Hamburg.
Richtig, in der Hansestadt herrschte früher eine große Bildungsarmut, doch Hamburg hat auf Basis der Ergebnisse von Vergleichsarbeiten die Situation gezielt verbessert. Und Berlin wiederum orientiert sich mit einem umfassenden Programm für die Bildung an Hamburg. Trotzdem wird man in Stadtteilen mit großen sozialen Problemen nicht an die Durchschnittsergebnisse von ökonomisch starken Regionen herankommen, denn der Bildungshintergrund der Eltern beeinflusst nach wie vor die Bildungsergebnisse der Kinder.
Wie kann die Chancengleichheit in Deutschland langfristig verbessert werden?
Integration und Bildungsarmut sind nach wie vor die größten Baustellen im Bildungssystem. Es muss mehr investiert werden, zum Beispiel in den Ausbau der Kitas und Ganztagsschulen. Wichtig ist dabei die gezielte Förderung dort, wo es nottut. Das Geld muss in die Stadtteile, wo die Elternhäuser eher bildungsfern sind. Mehr Ressourcen für Brennpunktschulen sind ein guter erster Schritt. Generell sollten zusätzliche Ressourcen über einen Sozialindex auf die Schulen verteilt werden.
In der Corona-Krise waren Kinder aus sozialen Brennpunkten oft noch stärker benachteiligt als ohnehin schon. Was kann die Politik tun, um die Situation zu verbessern?
Der Bund hat Mittel für Leihgeräte zur Verfügung gestellt und auch die Kommunen stellen den Schulen nun zunehmend Notebooks oder Tablets bereit, das funktioniert schon weitgehend gut. Wichtig wäre außerdem die Stärkung der Schulen durch professionelle Teams für Gesundheit, Psychologie und Sozialarbeit. Und um die Digitalisierung an den rund 40.000 allgemeinen und beruflichen Schulen richtig voranzubringen, wären 20.000 zusätzliche IT-Fachkräfte nötig.
Im Gespräch mit Eltern hatte man in der Lockdown-Zeit den Eindruck, dass manche Lehrer im Homeschooling alles getan haben, damit die Schüler den Anschluss nicht verlieren. Andere Pädagogen sahen die Corona-Zeit indes als Zusatzurlaub.
Wie der Unterricht im Homeschooling verlaufen ist, lag tatsächlich zu einem großen Teil in der Eigenverantwortung der Lehrkräfte. Manche waren sehr engagiert, was allerdings nicht immer ausreichend gewürdigt wurde. Aber es gab auch vereinzelt Lehrkräfte, die einfach überfordert waren, und jene, die nicht so viel getan haben. An vielen Stellen fehlte es durch den Kaltstart einfach an Hardware, Software und Weiterbildung. Das Bildungssystem kann nicht so schnell auf Umbrüche reagieren wie normale Unternehmen. Dahinter steckt ein grundlegendes Problem: Beim Thema Bildung gibt es sehr viele Verantwortliche – Stadt oder Kreis für das Schulgebäude und die Ausstattung, die Länder für die Lehrer, der Bund fördert über den Digitalpakt und dabei gibt es viele bürokratische Hürden.
Wäre Corona nicht ein guter Anlass, Schulen zur Bundessache zu machen und den Föderalismus in diesem Bereich zu begraben?
Der Föderalismus ist im Bildungssystem grundlegend verankert. Akademisch kann man ein Ende des Föderalismus in der Bildung diskutieren, aber das ist realitätsfern. Eher werden wir jetzt erleben, dass es durch die unterschiedlichen Infektionszahlen in den Städten und Kreisen eine noch stärkere Regionalisierung bei den Unterrichtsstrategien geben wird. Das ist aber sinnvoll.
Schon heute variiert die Qualität der Abiturprüfungen stark. Das Abi in Bayern gilt als anspruchsvoll, das in Bremen nicht. Haben wir durch die Regionalisierung, die Sie in Aussicht stellen, bald auch das Abi von Würzburg und das Abi von München?
Grundsätzlich ist das Abitur weiterhin ein hochwertiger Abschluss und man sollte die bestehenden Unterschiede nicht überzeichnen. Wir sollten im kommenden Schuljahr aber unterschiedliche Strategien entwickeln. Sind die Neuinfektionen in einem Kreis niedrig, kann der Unterricht nah am Regelbetrieb erfolgen. Sind die Infektionszahlen hoch, könnte eine Kombination von Fern- und Präsenzunterricht sinnvoll sein. Temporär können sich dann Unterschiede nach Kreisen ergeben.
Das nächste Schuljahr stellt eine große Herausforderung dar, alle Lehrkräfte werden gebraucht.
Für den digitalen Unterricht brauchen wir dringend qualitative Verbesserungen. Meine Hoffnung wäre dabei, dass man bei den nächsten Vergleichsarbeiten nicht nur schaut, welche Schüler einen großen Förderbedarf haben, sondern auch, an welchen Schulen es besonders gut gelaufen ist während Corona. Welche Klassen haben gute Ergebnisse trotz Fernunterricht und welche Tools haben diese Schulen und Lehrer eingesetzt? Nutzte man dort beispielsweise Videokonferenzen? Haben sich Lehrkräfte Feedback gegeben? Welche Unterrichtsstrategien funktionieren besonders gut? Gegner der Vergleichsarbeiten zitieren oft ein Sprichwort: „Vom Wiegen wird die Sau nicht fett“. Aber es geht ja darum zu lernen, wie erfolgreicher Unterricht auch unter schwierigen Bedingungen gelingen kann.
Wie stehen die Chancen für das nächste Schuljahr?
Alle hatten nun ein wenig Zeit und die Gesellschaft kann erwarten, dass die Schulen und Lehrer für das kommende Schuljahr besser vorbereitet sind. Was beim Schulstart jetzt nicht passieren sollte, ist, dass man sich allein auf den Regelbetrieb fokussiert. Die Schulen müssen auf verschiedene Szenarien gut vorbereitet werden. Zum einen auf eine mögliche zweite Infektionswelle. Zum anderen aber auch, um die Unterrichtsqualität im Regelbetrieb langfristig zu verbessern. Digitale Lernkonzepte müssen noch stärker in Angriff genommen werden. Wünschenswert wäre eine stärker gelebte Kultur der Zusammenarbeit: Lehrer sind bislang oft Einzelkämpfer und tauschen eher selten Unterlagen aus, obwohl sie denselben Stoff unterrichten. Doch gerade die Digitalisierung könnte die Teamarbeit erleichtern.
Und wir brauchen dringend Konzepte, wie Lehrkräfte mit Vorerkrankungen, die zur Risikogruppe zählen und nicht im Präsenzunterricht eingesetzt werden, in den digitalen Unterricht eingebunden werden können. Das nächste Schuljahr stellt eine große Herausforderung dar, alle Lehrkräfte werden gebraucht.