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Kommentar: „Ein starkes Europa braucht ein starkes Polen“

In Polen hat die regierende Prawo i Sprawiedliwość (PiS) (deutsch: Recht und Gerechtigkeit) die Demokratie ausgehöhlt. Für einen Sieg der Opposition bedarf es fast eines Wunders. Die anstehende Parlamentswahl ist im Wesentlichen ein Referendum über Demokratie und die Zukunft der polnischen Beziehungen zur EU. Selbst ein „Polexit“ ist nicht ausgeschlossen, meint Julian Sommer, Referent für Europapolitik im Brüsseler Büro des IW.

Kernaussagen in Kürze:
  • Die Parlamentswahl in Polen am 15. Oktober wird nicht fair sein, weil der Opposition ein fairer Wettbewerb verwehrt wird.
  • Die polnische Regierung versucht unter anderem mit sozialpolitischen Versprechen, die Wähler auf ihre Seite zu ziehen.
  • Auf europäischem Parkett ist Polen praktisch isoliert, dabei könnte es in der EU eine viel größere Rolle spielen.
Zur detaillierten Fassung

Wer die Parlamentswahl am 15. Oktober 2023 gewinnen wird, lässt sich kaum vorhersagen. Aktuelle Umfragen deuten darauf hin, dass die PiS um Parteichef Jarosław Kaczyński im Vergleich zu den letzten Wahlen an Unterstützung verliert. Dennoch schneidet die „Vereinigte Rechte“, das Wahlbündnis der PiS zusammen mit ihrem einzigen potenziellen Koalitionspartner, der rechtsextremen Partei Konfederacja, in den Meinungsumfragen etwa genauso gut ab wie die drei Oppositionsbündnisse zusammen: die liberale Bürgerkoalition um den früheren Ministerpräsidenten Donald Tusk, das linke Bündnis Lewica und das Mitte-Rechts-Bündnis Trzecia Droga.

Sicher ist allerdings: Die Wahl wird vielleicht frei sein, aber nicht fair. Die rechtspopulistischen Amtsinhaber haben die Spielregeln so verändert, dass der Opposition faire Wettbewerbsbedingungen verwehrt bleiben.

Seit 2015 hat die PiS-Regierung das Land dramatisch verändert

Da ist zum einen die umstrittene Justizreform, die die Unabhängigkeit der Justiz aushebelt, indem sie Richter und Staatsanwälte der Regierung unterstellt. In einem weiteren Schritt änderte die Regierung die Wahlgesetze; Anfang dieses Jahres wurde die „Lex Tusk“ verabschiedet, ein umstrittenes Gesetz, das den Ausschluss von Politikern von Wahlen ermöglicht, die angeblich von Russland beeinflusst werden.

Die anstehende Parlamentswahl in Polen wird nicht fair sein: Die rechtspopulistischen Amtsinhaber haben die Spielregeln so verändert, dass der Opposition faire Wettbewerbsbedingungen verwehrt bleiben.

Ein weiteres Beispiel ist die öffentlich-rechtliche Medienlandschaft: Seit Regierungsantritt der PiS wurden unabhängige Stimmen verdrängt, mit dem Ergebnis, dass die 14 nationalen Fernsehsender und acht Radiokanäle nur über die Regierungspartei berichten. Wenn die Opposition erwähnt wird, dann in negativer Form – ein Verstoß gegen die Verpflichtung, Nachrichten auf pluralistische Weise zu präsentieren. Hinzu kommt ein „Kulturkampf“ gegen die Deutschen, die EU, Migranten, queere Menschen und generell die liberalen Werte des Westens.

Warum ist die Regierung dennoch populär? Sie hat die Sozialleistungen seit 2015 großzügig ausgebaut. Ein Kindergeld wurde eingeführt und die Renten um eine „13. Rente“ erhöht. Nun verspricht die PiS im Falle einer Wiederwahl eine „14. Rentenzahlung“. Hinzu kommt die Einsetzung von PiS-Vertrauten in Schlüsselpositionen staatlicher Unternehmen. Auch die geben sich große Mühe, der Regierung zur Wiederwahl zu verhelfen. Daniel Obajtek, Chef der staatlichen Ölgesellschaft Orlen und PiS-Mitglied, hat etwa die Benzinpreise so weit gesenkt, dass sie weit unter dem Marktniveau liegen.

Wahl plus „Referendum“

Um rechte Wähler zu mobilisieren, bedient sich die PiS eines weiteren schmutzigen Tricks: Sie kombiniert die Parlamentswahlen mit einem „Referendum“. Es findet zur gleichen Zeit und an den gleichen Orten wie die Wahlen statt und enthält vier Fragen, die alle auf falschen Tatsachen beruhen. Eine davon lautet, ob die Bevölkerung „die Aufnahme von Tausenden illegalen Einwanderern aus dem Nahen Osten und Afrika nach dem von der europäischen Bürokratie auferlegten Zwangsumsiedlungsmechanismus“ unterstützt. Das klingt fast nach einem Scherz, wenn man bedenkt, dass das Land gerade von einem Visa-Skandal erschüttert wird, der zeigt, dass hochrangige Staatsbeamte Schengen-Visa an Migranten vor allem aus muslimischen Ländern verkauft hatten.

Eine europäische Erfolgsgeschichte

Auf europäischem Parkett ist Polen praktisch isoliert, dabei könnte es eine viel größere Rolle spielen. Denn, das Land ist nicht nur der fünftbevölkerungsreichste Mitgliedstaat der EU, sondern hat in den letzten drei Jahrzehnten ein beeindruckendes Wirtschaftswachstum hingelegt (siehe „Das Wachstum wiederbeleben“). Außerdem: Polen hatte recht – in Bezug auf Russland, Nord Stream 2, die europäische Sicherheitsordnung und die Bedeutung des Militärs. Warschau hat die EU-Sanktionspolitik gegenüber Russland und die Diskussionen über den Kandidatenstatus für die Ukraine stark geprägt, seine militärische und politische Unterstützung für Kiew war bis zuletzt bemerkenswert, das Land hat Millionen von Geflüchteten aufgenommen.

Auf europäischem Parkett ist Polen praktisch isoliert, dabei könnte es eine viel größere Rolle spielen.

Trotzdem bleibt Polens Rolle in der EU eher unbedeutend. Das liegt vor allem daran, dass sich Warschau selbst ins Abseits stellt. Anstatt die Union glaubwürdig voranzubringen, ist die Regierung immer dagegen – gegen die aktuelle Agenda, gegen ihre Partner. Und die Regierung ändert ihren Standpunkt immer dann, wenn es ihr nützlich erscheint. Noch vor Jahresende will Brüssel wichtige Vereinbarungen zu einer Vielzahl von Themen treffen. Doch Polen könnte hier blockieren. Darüber hinaus ignoriert die polnische Regierung auch Dinge, denen sie selbst zugestimmt hat, und verletzt grundlegende Prinzipien der EU wie die Rechtsstaatlichkeit oder den Vorrang des EU-Rechts.

Droht der „Polexit“?

Weder die PiS noch die Konföderation befürworten offiziell einen Austritt Polens aus der EU. Im Streit mit Brüssel um den Rechtsstaat hat die Regierung aber bereits Schritte in diese Richtung unternommen. So ließ Ministerpräsident Morawiecki im März 2021 beim von der PiS kontrollierten Verfassungsgerichtshof anfragen, ob die polnische Verfassung über dem EU-Recht stehe und ob der Europäische Gerichtshof bei der Kontrolle der Justizreformen in Polen über seine Befugnisse hinaus gehandelt habe. Julian Sommer ist Referent für Europapolitik im Brüsseler Büro des IW; Foto: privat

Der Verfassungsgerichtshof entschied, dass die Verfassung Vorrang gegenüber allen Normen einschließlich jener des Unionsrechts habe. Was zunächst nach einer juristischen Fachdiskussion klingt, stellt die gesamte Rechtsordnung der EU infrage, die ohne Vorrang des EU-Rechts in sich zusammenfiele. Einige Rechtswissenschaftler sprachen bereits von einem „rechtlichen Polexit“ und einem ersten Schritt auf dem Weg zum faktischen Austritt aus der Union.

Ein europäisches Polen

All das könnte sich ändern! Donald Tusk hat es zutreffend ausgedrückt: Nicht Polen bewegt sich auf die Tür zum EU-Austritt zu, sondern Kaczyński und seine Entourage. Meine persönliche Erfahrung im Land ist nicht nur, dass eine Mehrheit keinen „Polexit“ will, sondern auch, dass die vielen fleißigen und liebenswerten Menschen mit ihrer europäischen Familie zusammenarbeiten und -leben wollen.

Die künftige polnische Regierung müsste in Brüssel auf Kompetenz, Kooperation und gegenseitiges Vertrauen setzen.

Eine künftige Regierung, die mit genau diesen Menschen kooperiert, könnte nicht nur einen „Polexit“ verhindern, sondern die Stärken des Landes zum Wohle Polens und Europas nutzen. Denn: Ein starkes Europa braucht ein starkes Polen. Die neue Regierung müsste hierfür in Brüssel auf Kompetenz, Kooperation und gegenseitiges Vertrauen setzen. Dann könnte sie auf europäischem Terrain viel voranbringen: von der Sicherheitspolitik über die Reform der Gemeinsamen Agrarpolitik bis hin zur Vorbereitung der Erweiterung und der dringend notwendigen institutionellen Reform der EU.

Polens Platz im Zentrum der EU ist zum Greifen nah. Es ist an der Zeit, dass Warschau diese Chance endlich nutzt. Für einen Sieg der Opposition bedarf es fast eines kleinen Wunders. Aber gerade in Polen sind Wunder nicht ausgeschlossen. Wie heißt es so schön in der polnischen Nationalhymne? „Jeszcze Polska nie zginęła“ – „Noch ist Polen nicht verloren“!

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