Wirtschaftswachstum Lesezeit 6 Min.

Kann Deutschland seinen Lebensstandard halten?

In den Jahren 2025 bis 2035 werden sich Millionen Babyboomer in den Ruhestand verabschieden und die Erwerbsbevölkerung in Deutschland stärker schrumpfen lassen als die Gesamtbevölkerung. Wenn die Arbeitszeit weiter sinkt und die Produktivität wie in den vergangenen 30 Jahren wächst, wird das dazu führen, dass das sogenannte Wachstumspotenzial erheblich zurückgeht. Soll der Lebensstandard in Deutschland dennoch wie gewohnt steigen, müssen Politik und Unternehmen kräftig gegensteuern.

Kernaussagen in Kürze:
  • Bis 2035 gehen Millionen Babyboomer in den Ruhestand. Wenn Wirtschaft und Politik zu wenig tun, um diesen demografischen Wandel zu begleiten, wird der Lebensstandard in Deutschland sinken.
  • Je nach Szenario könnte das Pro-Kopf-Einkommen im Jahr 2035 um bis zu 7.000 Euro niedriger ausfallen.
  • Die Unternehmen müssen vor allem ihre Produktivität erhöhen, der Staat muss für attraktive Standortbedingungen sorgen.
Zur detaillierten Fassung

Die Ursache des Problems ist immerhin schon 60 bis 70 Jahre alt: Damals, zwischen 1950 und 1964, kamen in Deutschland Jahr für Jahr mehr als eine Million Kinder zur Welt. Dann folgte der berühmte Pillenknick und bis Mitte der 1970er Jahre ging die Zahl der Geburten auf rund 780.000 zurück. Seitdem verharrt sie mehr oder weniger auf diesem Niveau – auf dem Geburten-Höhepunkt im Jahr 1964 waren es noch mehr als 1,3 Millionen Kinder.

Nun gehen die Babyboomer nach und nach in Rente, und wenn sich – wovon auszugehen ist – an der Entwicklung der Geburtenrate, der Lebenserwartung und der Zuwanderung nichts Grundlegendes ändert, bekommt der deutsche Arbeitsmarkt damit ein großes Problem (Grafik):

Derzeit sind rund 65 Prozent der deutschen Bevölkerung 18 bis 67 Jahre alt – bis Mitte der 2030er Jahre wird der Anteil der Erwerbspersonen auf weniger als 60 Prozent zurückgehen.

Prognostizierter Anteil der Bevölkerung im Alter von 18 bis 67 Jahren an der Gesamtbevölkerung in Prozent Download: Grafik (JPG) herunterladen Grafik (EPS) herunterladen Tabelle (XLSX) herunterladen

Nun mag ein Minus von rund 5 Prozentpunkten nicht nach besonders viel klingen, in absoluten Zahlen bedeutet es allerdings, dass dem Arbeitsmarkt im Vergleich zu heute fünf Millionen Menschen weniger zur Verfügung stehen werden – eine Entwicklung, die durch Zuwanderung allein nicht aufgehalten werden kann. Die ökonomischen Konsequenzen einer schrumpfenden Erwerbsbevölkerung sind gravierend und gefährden den Wohlstand, weil gleich zwei Effekte zusammenkommen:

Erstens muss eine kleiner werdende Zahl an Erwerbstätigen die Einkommen einer größer werdenden nicht arbeitenden Bevölkerung erwirtschaften, sprich vor allem die steigenden Rentenausgaben finanzieren.

Zweitens schrumpft das Angebot an Arbeitskräften, was sich negativ auf das sogenannte Wachstumspotenzial auswirkt.

Ein Ausweg aus diesem Dilemma führt über eine steigende Produktivität – die arbeitenden Bundesbürger müssten also pro Arbeitsstunde immer mehr erwirtschaften. Doch die Zeiten von spürbaren Produktivitätsgewinnen sind lange vorbei (Grafik):

Erreichten die Bundesbürger in den 1960er Jahren im Fünfjahresdurchschnitt noch einen Produktivitätszuwachs von gut 5 Prozent, stieg die Stundenproduktivität im Zeitraum 2016 bis 2020 nur noch um durchschnittlich 0,8 Prozent.

Veränderung des realen Bruttoinlandsprodukts je Erwerbstätigenstunde in Prozent (5-Jahresdurchschnitte) Download: Grafik (JPG) herunterladen Grafik (EPS) herunterladen Tabelle (XLSX) herunterladen

Zwar steht Deutschland damit nicht allein da, denn in allen großen Industrienationen sinkt das Produktivitätswachstum seit Jahrzehnten. Doch das ist kein Trost, sondern weist vielmehr auf ernsthafte strukturelle Probleme hin – für eine Exportnation wie Deutschland ist es immer ein Alarmzeichen, wenn andere Volkswirtschaften schwächeln.

Wenn Wirtschaft und Politik zu wenig tun, um den demografischen Wandel zu begleiten, wird der Lebensstandard in Deutschland sinken.

Was also tun? Um diese Frage zu beantworten, hat das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) mit der Online-Jobplattform StepStone, dem beruflichen Netzwerkunternehmen New Work SE und Kienbaum Consultants International drei Szenarien aufgestellt, die die Folgen dieses Wandels für Deutschland simulieren:

Das Basisszenario. Hier gehen die IW-Ökonomen davon aus, dass sich die Politik dem Wandel nicht aktiv entgegenstellt, sondern einfach so weitermacht wie bisher. Die Folge: Aufgrund der demografischen Entwicklung sinkt das Arbeitsvolumen ab 2025 deutlich, gleichzeitig kommt kein wesentlicher Impuls von den Investitionen, sodass der Kapitalstock, also der Bestand an Maschinen und Anlagen, nur leicht wächst. Vom technischen Fortschritt gehen positive Wachstumsbeiträge aus, die zusammen mit dem moderaten Kapitalaufbau den Rückgang des Arbeitsvolumens mehr als ausgleichen – und zumindest ein moderates Wirtschaftswachstum ermöglichen.

Obwohl daraus ähnlich moderate Produktivitätszuwächse wie in den vergangenen 30 Jahren resultieren, reichen diese nicht mehr aus, um das gewohnte Wohlstandstempo zu halten: Während die realen Pro-Kopf-Einkommen in den Jahren 1991 bis 2019 jahresdurchschnittlich um 1 ¼ Prozent gestiegen sind, sinkt der Zuwachs im Basisszenario bis 2035 auf 1 Prozent.

Dieser Unterschied baut sich über die Jahre auf: Im Vergleich zur Entwicklung der vergangenen 30 Jahre werden die Bundesbürger im Jahr 2035 pro Kopf real 1.600 Euro weniger zur Verfügung haben, als wenn sich das Einkommen weiterhin so gut entwickeln würde wie in der Vergangenheit.

Das Negativszenario. Nach diesem Drehbuch kommt es zu einer spürbaren Verschlechterung des Investitions- und Innovationsklimas, wobei die Investitionsschwäche zudem eine Technologieschwäche forciert. Das hätte zur Folge, dass die Industriebasis – ein Pfund, mit dem Deutschland traditionell wuchern konnte – bröckelt und die strukturelle Arbeitslosigkeit steigt.

Gegenüber dem Basisszenario summieren sich die Wohlstandsverluste je Einwohner in diesem Fall auf rund 4.000 Euro im Jahr 2035.

Das Positivszenario. Steuert die Wirtschaftspolitik rechtzeitig gegen und sorgt für investitions- und forschungsfreundliche Rahmenbedingungen, könnte die Produktivität bis 2035 jahresdurchschnittlich um 1,5 Prozent steigen und das Pro-Kopf-Einkommen würde um rund 3.000 Euro höher ausfallen als im Basisszenario. Das heißt:

Beim realen Pro-Kopf-Einkommen beträgt der Unterschied zwischen Positiv- und Negativszenario im Jahr 2035 rund 7.000 Euro.

Das zeigt, welche Konsequenzen es für den Einzelnen hat, wenn Wirtschaft und Politik zu wenig tun, um den Wandel zu begleiten. Wie der Aufgabenkatalog aussieht, lässt sich klar definieren:

Die Unternehmen haben vor allem die Aufgabe, ihre Produktivität zu erhöhen. Dafür haben sie diese beiden Hebel:

• Auf der Personalebene geht es vor allem darum, die Potenziale der Mitarbeiter stärker zu aktivieren und zu nutzen. Voraussetzung dafür ist, dass die Stellenanforderungen und die Kompetenzen der Mitarbeiter zueinanderpassen. Dieser Zusammenhang wird durch eine Umfrage im Rahmen der IW-Studie bestätigt:

Viele Beschäftigte streben mit einem Arbeitgeberwechsel mehr Gehalt, bessere Karrieremöglichkeiten und andere Arbeitsaufgaben an. Gelingt ihnen der Wechsel, sind die Beschäftigten mit den Möglichkeiten, ihre Kompetenzen und Fähigkeiten einzusetzen, zufriedener.

Auch die Fluktuation am Arbeitsmarkt fördert die Produktivität.

• Auf der betrieblichen Ebene hängt die Innovationsfähigkeit vor allem davon ab, sich an neue und sich wandelnde Marktbedingungen anzupassen. Dies gelingt dann am besten, wenn es eine Fehlerkultur gibt, die dazu anregt, Neues auszuprobieren, und wenn eigenverantwortliches Arbeiten möglich ist und die Belegschaft in wichtige Entscheidungen eingebunden wird.

Die Politik muss für attraktive Standortbedingungen sorgen. Das Wachstumspotenzial der deutschen Volkswirtschaft lässt sich durch viele Initiativen steigern, dazu gehören vor allem eine stärkere Erwerbsbeteiligung von Frauen und Älteren, eine Bildungsoffensive auf allen Altersebenen, eine Senkung der hohen Abgabenbelastung auf den Faktor Arbeit sowie mehr Zuwanderung qualifizierter Arbeitskräfte.

Es braucht aber auch bewährte – wenn auch nicht immer populäre – Instrumente wie die Befristung, die Zeitarbeit und eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit, sprich ein höheres Renteneintrittsalter.

Jenseits des Arbeitsmarktes lassen sich die Standortbedingungen wettbewerbsfähiger gestalten, indem die hohen Unternehmensteuern gesenkt werden und eine verlässliche und qualitativ hochwertige öffentliche Infrastruktur geschaffen wird. Zu denken ist dabei vor allem an die Digitalisierung, ein Feld, auf dem Deutschland noch immer hinterherhinkt.

Das alles kann nur gelingen, wenn die Politik ein finanziell großzügiges und langfristiges Investitionsprogramm auf die Beine stellt und gleichzeitig umfangreiche öffentliche Strukturreformen umsetzt, damit die verfügbaren Mittel schnell und effizient nutzbar gemacht werden. Es braucht vor allem schnellere Genehmigungsverfahren.

Auf der politischen To-do-Liste steht zudem, die Hürden im Arbeits-, Sozial- und Steuerrecht zu beseitigen, um so Innovationen und Unternehmensgründungen zu fördern.

Das könnte Sie auch interessieren

Meistgelesene