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Interview: „Wir sind nun ein konjunkturelles Fragezeichen“

Zerstörte Lieferketten, knappes Material, zu wenige Fachkräfte und teure Energie machen den Baufirmen zu schaffen. Wie die Branche mit diesen Herausforderungen umgeht und welche Hilfe er von der Politik erwartet, erklärt Tim-Oliver Müller, Hauptgeschäftsführer des Hauptverbands der Deutschen Bauindustrie.

Kernaussagen in Kürze:
  • Die deutsche Bauindustrie hat sich innerhalb weniger Wochen von einer Konjunkturstütze zu einem konjunkturellen Fragezeichen gewandelt, sagt Tim-Oliver Müller, Hauptgeschäftsführer des Hauptverbands der Deutschen Bauindustrie.
  • Die Branche ist belastet durch Materialknappheit, den hohen Dieselpreis und fehlende Fachkräfte.
  • Müller wünscht sich deshalb von der Politik Unterstützung für die Bauindustrie: Um Planungssicherheit zu haben, sollte sie ihre Investitionsbudgets aufrechterhalten.
Zur detaillierten Fassung

Die Bauindustrie boomte lange Zeit, selbst Corona konnte Ihrer Branche nichts anhaben. Nun zeigt die aktuelle IW-Konjunkturumfrage, dass die Bauwirtschaft die pessimistischste aller Branchen ist. Was ist passiert?

Ja, das ist fast schon eine absurde Situation: Vor ein paar Wochen hätte ich Ihnen für die Bauindustrie einen historisch einmaligen hohen Auftragsbestand verkünden können und nun laufen wir in der Tat in eine konjunkturell schwierige Lage hinein. Während wir in der Corona-Pandemie eine Stütze der deutschen Konjunktur waren, sind wir jetzt konfrontiert mit abrupt zerstörten Lieferketten, mit enormen Preissteigerungen, mit drohenden Materialknappheiten – was wir bisher so in Deutschland nicht kannten – und teilweise auch mit Kurzarbeit. Wir haben uns also von einer Konjunkturstütze zu einem konjunkturellen Fragezeichen gewandelt, weil wir einfach nicht abschätzen können, was in den nächsten ein, zwei Monaten in der Bauindustrie passiert.

Im vergangenen Herbst rechneten die Wirtschaftsforschungsinstitute mit einem Wachstum der Bauinvestitionen in Deutschland von 2,6 Prozent für dieses Jahr. Von welcher Größenordnung gehen Sie mittlerweile aus?

Genau können wir das erst zum Tag der Bauindustrie Mitte Mai sagen, aber es wird deutlich weniger sein.

Was belastet die Geschäfte Ihrer Branche besonders?

Tim-Oliver Müller ist Hauptgeschäftsführer des Hauptverbands der Deutschen Bauindustrie; Foto: HDB/Bollhorst Bei den Materialien sind das vor allem die Stahlpreise sowie Materialien, die rohölbasiert sind. 40 Prozent des Stahls, den wir in Deutschland verbauen, kommen aus Russland, Belarus oder der Ukraine. Das Stahlwerk in Mariupol, über das man jetzt so viel liest und hört, weil sich dort die Bewohner vor den russischen Truppen verschanzt haben, ist eines der größten Stahlwerke in Europa, das aber nun nichts mehr produziert. Wir haben also beim Stahl eine echte Angebotsverknappung.

An der Ölraffinerie in Schwedt hängt ein erheblicher Teil der Bitumenproduktion in Deutschland. Wenn die ausfällt, haben wir keine Materialien, um Straßen und Brücken zu bauen, Dachbahnen zu legen oder im Hochbau zu isolieren. Und es ist nicht leicht, für Bitumen Alternativquellen zu finden.

Bei Bitumen, einem wichtigen Bindemittel zur Herstellung von Asphalt, laufen wir ebenfalls in einen Engpass hinein. Bisher war Bitumen nur von Preissteigerungen betroffen, aber aufgrund des bevorstehenden Ölembargos kann künftig die Ölraffinerie in Schwedt nicht weiterbetrieben werden. Doch an Schwedt hängt ein erheblicher Teil der Bitumenproduktion in Deutschland. Wenn das ausfällt, haben wir keine Materialien, um Straßen und Brücken zu bauen, Dachbahnen zu legen oder im Hochbau zu isolieren. Und es ist nicht leicht, für Bitumen Alternativquellen zu finden, weil für die Produktion schweres Rohöl benötigt wird. Das könnte man aus Venezuela oder dem Iran beschaffen, aber für beide Länder gelten Embargos. Wir drohen also bei Bitumen in eine Verknappung hineinzulaufen, ohne dass wir eine alternative Bezugsquelle haben.

Und was richtig wehtut, ist der Dieselpreis. Wir sind eine mobile Branche: Ein mittelständischer Betrieb mit 200 bis 300 Mitarbeitern hat ebenso viele Fahrzeuge, um die Menschen und die Materialien zur Baustelle zu bringen. Auch die Baugeräte werden mit Diesel betrieben. Eine Steigerung des Dieselpreises um 50 Prozent kann kein Unternehmer kompensieren.

Der Bau ist der ressourcenintensivste Wirtschaftszweig in Deutschland. Warum recycelt die Bauindustrie nicht mehr?

Wir recyceln unglaublich viel. Im Straßenbau beispielsweise liegen die Recyclinganteile bei etwa 90 Prozent. Wir haben aber ein anderes Problem: Es liegt oftmals an den Regularien, dass wir nicht mehr Recyclingbaustoffe einsetzen können. Es gibt viele Bundesländer, die in ihre Vergabebedingungen reinschreiben, dass sie einen Primärbaustoff – also einen neu erzeugten Baustoff – fordern. Recyclingbaustoffe sind also oft schlichtweg nicht zugelassen.

Ein gutes Beispiel für einen alternativen Baustoff ist Carbonbeton, der nur für einzelne Bauteilgruppen verwendet werden darf, obwohl er sicherheitstechnisch viel breiter eingesetzt werden könnte. Wir wünschen uns, dass Recyclingbaustoffe mindestens gleichwertig behandelt werden wie neue Baustoffe, weil wir uns auch auf diesem Weg unabhängiger machen würden von der Primärbaustoffproduktion und damit von Importen aus Drittländern.

Schon jetzt liegen viele Bauvorhaben aufgrund der gestiegenen Energie- und Materialkosten auf Eis. Was passiert, wenn nun auch noch die Hypothekenzinsen steigen?

Die Baufinanzierung wird dadurch teurer – und damit der Verkaufspreis oder die Miete für ein fertiggestelltes Objekt. Die Miete, die man derzeit am frei finanzierten Wohnungsmarkt aufgrund der Investitions- und Finanzierungskosten erzielen muss, damit sich ein Projekt rentiert, liegt bei 13,50 Euro kalt pro Quadratmeter. Das ist natürlich nicht das Preisniveau, das sich die Bundesregierung für die jährlich 100.000 neuen Wohnungen im sozialen Wohnungsbau wünscht. Und wenn nun auch noch die Hypothekenzinsen steigen, kommt das on top.

Auch der Bauindustrie fehlen viele Fachkräfte. Erledigt sich das Problem nun von selbst aufgrund der möglichen Rezession in der Bauwirtschaft?

Nein, denn wir haben in Deutschland einen enormen Modernisierungsbedarf. Sobald sich die Material- und Preissituation wieder normalisiert, muss das angegangen werden. Außerdem war die Bauindustrie zuletzt sehr stark in der Fachkräftegewinnung: Wir haben in den vergangenen 15 Jahren rund 200.000 neue Beschäftigte eingestellt, das ist eine gigantische Zahl. Und wir haben unsere Ausbildungszahlen gesteigert, gegen den Trend.

Was wir allerdings haben, ist ein demografisches Problem: Die Belegschaft in der Bauindustrie ist im Schnitt über 50 Jahre alt. Und wer am Bau arbeitet, wird das in der Regel nicht bis zum Renteneintrittsalter tun. Bis 2030 werden wir deshalb rund 100.000 Arbeitskräfte verlieren. Weil wir so viele neue Arbeitskräfte schwerlich finden werden, müssen wir die Produktivität am Bau anders steigern: mithilfe der Digitalisierung, der Industrialisierung und der Automatisierung.

Erwarten Sie Hilfen von der Politik für Ihre Branche?

Die Politik kann in zweierlei Hinsicht helfen. Sie kann ihre Investitionsbudgets aufrechterhalten, um unserer Branche Planungssicherheit zu geben. Die zweite Hilfe, die mindestens ebenso wichtig ist, betrifft die sogenannten Stoffpreisgleitklauseln. Im Hoch- und im Tiefbau werden bei öffentlichen Aufträgen Preissteigerungen für Materialien von der Bundesregierung übernommen, wenn die Aufschläge mehr als 10 Prozent des Auftragsvolumens betragen. Dieses Mindestmaß ist für die Unternehmer extrem hart. Wir plädieren deshalb dafür, dass der Bund für das, was er bei uns bestellt, bezahlt – egal, ob die Materialpreise um 9 oder 19 Prozent steigen.

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