Ein Embargo gegen russisches Gas ist schwer zu modellieren
Eine Analyse mehrerer Ökonomen hat in jüngster Zeit mediale Wellen geschlagen. Der Studie zufolge könnte die deutsche Wirtschaft einen sofortigen Stopp der russischen Erdgaslieferungen relativ gut verkraften. Doch das Modell, das der Studie zugrunde liegt, bildet die aktuelle wirtschaftliche Realität nur unzureichend ab.
- Einer Gruppe von Ökonomen zufolge wäre ein Stopp der russischen Erdgaslieferungen für die deutsche Wirtschaft gut verkraftbar. Doch die Modellrechnung kann die Realität nur bedingt abbilden.
- Tatsächlich könnte die deutsche Industrie bis zum Jahresende schon aus technischen Gründen maximal 8 Prozent des zur Energiegewinnung genutzten Erdgases substituieren.
- Außerdem vernachlässigt das ökonomische Modell unter anderem die zu erwartenden Beschäftigungseinbußen sowie die Tatsache, dass die deutsche Wirtschaft etwa durch Corona bereits stark belastet ist.
Seit Wladimir Putin den Krieg in der Ukraine begonnen hat, versuchen die westlichen Länder, Russland mit Sanktionen wirtschaftlich zu schwächen. Viel diskutiert wird dabei ein Embargo gegen russisches Erdgas. Inzwischen mehren sich die Befürchtungen, dass Russland seinerseits nach Polen und Bulgarien auch Deutschland und anderen europäischen Staaten den Gashahn zudrehen könnte. Da stellt sich die Frage, wie hart ein Ende der russischen Gaslieferungen die deutsche Wirtschaft träfe.
Die Antworten aus der Wissenschaft fallen zwar durchaus unterschiedlich aus, eine Gruppe von Ökonomen hat mit ihrem Befund aber besonders viel Aufmerksamkeit erregt: Die Einbußen in Sachen Wirtschaftswachstum würden maximal 2,3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts betragen, damit wäre ein russischer Lieferstopp beziehungsweise ein deutsches Embargo verkraftbar.
Zu diesem Schluss kommen die Forscher aufgrund von Berechnungen mithilfe eines makroökonomischen Modells. Solche Modelle sind in der Wirtschaftswissenschaft etabliert und grundsätzlich hilfreich, um zum Beispiel die Auswirkungen politischer Entscheidungen auf die Wirtschaft zu untersuchen. Allerdings gilt es zu beachten, dass Modellrechnungen stets mit einer Vielzahl von Annahmen arbeiten und die Realität eben nur bedingt abbilden können.
Die deutsche Industrie könnte bis Ende 2022 maximal rund 8 Prozent des zur Energiegewinnung genutzten Erdgases substittuieren.
Gerade im vorliegenden Fall sind die Berechnungen mit Vorsicht zu betrachten – aus folgenden Gründen:
Erdgas ist kurzfristig nur bedingt ersetzbar
Das in der genannten Analyse verwendete Modell unterstellt unter anderem, dass der Stopp der Gaslieferungen Preisreaktionen auslöst, auf die die Wirtschaft rational reagiert, indem sie auf andere Energierohstoffe ausweicht. Tatsächlich aber ist dies zumindest auf kurze Sicht in den meisten Sektoren schon technisch kaum möglich (Grafik):
Laut Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW) ließe sich in Deutschland gesamtwirtschaftlich kurzfristig nur knapp ein Fünftel des Gasverbrauchs ersetzen oder einsparen.
Die deutschen Kraftwerke könnten das zur Stromerzeugung verwendete Erdgas nur zu rund einem Drittel durch andere Energieressourcen ersetzen, weil viele Kraftwerke effizient gleichzeitig Strom und Wärme erzeugen – wobei die Berechnungen finanzielle Konsequenzen ausdrücklich außer Acht gelassen haben. In den deutschen Haushalten sieht der BDEW kurzfristige Einsparpotenziale von nur 15 Prozent.
Noch deutlich weniger verzichtbar ist Erdgas vorerst in den deutschen Industriefirmen (Grafik):
Im Schnitt könnte die Industrie bis Ende 2022 rund 8 Prozent des zur Energiegewinnung genutzten Erdgases substituieren.
Allerdings dürfte dieses Spar- und Ersatzpotenzial aufgrund der seit Mitte 2021 gestiegenen Energiepreise bereits weitgehend ausgeschöpft sein. Wo dies der Fall ist, führt ein Gasembargo beziehungsweise Lieferstopp zwangsläufig zu einem Produktionsstillstand.
Ein solcher Shutdown wäre vor allem in der Grundstoffindustrie zu erwarten, die Erdgas nicht nur zur Erzeugung von Prozesswärme, sondern auch als Rohstoff nutzt – beispielsweise bei der Herstellung organischer Chemikalien oder in der Düngemittelproduktion.
Beschäftigungseffekte werden nicht angemessen berücksichtigt
Das angesprochene makroökonomische Modell vernachlässigt die konjunkturellen Folgeeffekte eines Gasembargos beziehungsweise unterstellt, dass der Staat ihnen zum Beispiel durch finanzielle Transfers entgegenwirken kann.
Wenn jedoch Teile der Industrie ihre Produktion nicht nur kurzfristig, sondern über einen längeren Zeitraum stilllegen müssen, ist fraglich, ob der Staat dies noch über Maßnahmen wie das Kurzarbeitergeld aufzufangen vermag. Stellen die Unternehmen ihre Produktion endgültig ein, ist eine höhere Arbeitslosigkeit kaum zu vermeiden:
Je nachdem, welche Branchen ein Produktionsstopp in welchem Ausmaß trifft, ist mit einem Anstieg der Arbeitslosenzahl um zwei bis vier Millionen zu rechnen.
Die Folgen, etwa für die Kaufkraft und damit den Konsum als Konjunkturtreiber, wären verheerend.
Komplexe industrielle Produktionsstrukturen sind kaum zu modellieren
Viele Industriebranchen wie die Grundstoffindustrie sind entlang hoch differenzierter globaler Wertschöpfungsketten organisiert. Wenn hier Rohstoffe wie Erdgas oder die daraus hergestellten Vorprodukte plötzlich wegbrechen, lässt sich das – anders als im ökonomischen Modell unterstellt – kaum kompensieren.
Ein Stillstand der Produktion aufgrund gestörter Lieferketten lässt sich zudem nur mit hohem Kosten- und Zeitaufwand wieder aufheben. Käme es zu einem endgültigen Aus der Grundstoffproduktion, würde die Abhängigkeit Deutschlands von Lieferanten wie China steigen – was aus politischer Sicht wiederum kritisch zu bewerten wäre.
Die deutsche Wirtschaft ist bereits stark belastet
Anders als im makroökonomischen Modell in der Regel angenommen wird, würde ein Ende der russischen Gaslieferungen keineswegs auf eine deutsche Volkswirtschaft im Gleichgewicht treffen. Tatsächlich sehen sich die Unternehmen schon seit dem Ausbruch der Corona-Pandemie mit vielfältigen Produktions- und Logistikproblemen konfrontiert, was die Preise für Industrieerzeugnisse bereits vor dem Beginn des Ukraine-Kriegs im Schnitt um 25 Prozent in die Höhe getrieben hat.
Beim Lieferstopp für Gas würde es nicht bleiben
Die Modellberechnungen beschränken sich auf den Energiesektor. Doch es ist kaum anzunehmen, dass nicht auch Beschränkungen beim Import von anderen wichtigen Rohstoffen wie Palladium, Nickel oder Chrom folgen würden. Dies würde weitere Produktionsketten gefährden. Alternative Lieferanten wären zwar grundsätzlich vorhanden (siehe "Ukraine-Krieg: Neue Rohstofflieferanten gesucht"), doch müssten entsprechende Verträge erst ausgehandelt und neue Lieferketten etabliert werden.