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Interview: „Wenn wir weniger als 20 Prozent Gas einsparen, wird es im Winter knapp“

Die privaten Haushalte und die Industrie werden aller Voraussicht nach mehr Energie einsparen müssen als bisher, damit Deutschland ohne eine Gasmangellage durch den nächsten Winter kommt, sagt Barbie Kornelia Haller, Vizepräsidentin der Bundesnetzagentur. Alle Gaskunden müssten sich zudem auf erheblich höhere Kosten einstellen – auch auf längere Sicht.

Kernaussagen in Kürze:
  • Der ganz normale Haushaltskunde kann sich darauf verlassen, dass seine Gaszufuhr auch bei einer Mangellage nicht abgeschaltet wird, sagt Barbie Kornelia Haller, Vizepräsidentin der Bundesnetzagentur.
  • Sie betont aber auch, dass alle Verbraucher zusammen mindestens 20 Prozent Gas einsparen müssen, um bei einem normalen Winter 2022/23 eine Gasmangellage zu vermeiden.
  • Haller geht davon aus, dass der Umstieg auf Flüssiggas möglich ist, dennoch müssten die Verbraucher auch langfristig mit höheren Energiekosten rechnen.
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Frau Haller, die Bundesbürger sollen Energie sparen. Duschen Sie noch mit warmem Wasser?

Ja, tatsächlich. Ich denke unter der Dusche viel nach, aber irgendwann fällt mir dann auf, dass ich woanders weiter nachdenken sollte. Ich mache mir zunehmend Gedanken, so wie wahrscheinlich viele Bürger, wo ich zu Hause noch Energie sparen könnte. Ich versuche beispielsweise gerade, einen Termin mit meinem Sanitärtechniker zu bekommen, um die Heizungseinstellung im Haus zu verbessern. Und wir überlegen, wie wir weiter dämmen können, denn bei der Sanierung unseres Hauses haben wir damals nicht alle Fenster erneuert.

Nicht alle Menschen sind so vorausschauend. Was sagen Sie denen, die zu Hause einen privaten Swimmingpool beheizen, obwohl sie gerade woanders im Urlaub sind?

Im Moment kommt man da nur mit Appellen weiter. Wir werden aber möglicherweise in eine Situation kommen, wo wir auch behördlich agieren: Wenn wir wirklich eine Gasmangellage haben, werden solche Verbräuche eingeschränkt werden können.

Auch bei Privatverbrauchern?

Auch bei Privatverbrauchern. Es geht ja um die Sicherung des lebensnotwendigen Bedarfs und deshalb kann es bei Luxusprodukten zu einer Einschränkung kommen.

Die Bundesnetzagentur hat bislang immer betont, dass sich private Haushalte auf eine gesicherte Gasversorgung verlassen können …

Der ganz normale Haushaltskunde ist ein geschützter Kunde nach deutschem und europäischem Recht und er kann sich darauf verlassen, dass seine Gaszufuhr nicht abgeschaltet wird. Möglicherweise werden Bürger in ihrem allgemeinen Verhalten eingeschränkt werden, weil etwa öffentliche Schwimmbäder weniger geheizt oder in Behörden Heizungen heruntergefahren werden. Rein technisch können Abschaltungen bei einzelnen Haushalten im Verteilnetz auch nur schwer durchgeführt werden, im Gegensatz zu Industriekunden.

Für wie wahrscheinlich halten Sie es denn, dass im nächsten Winter eine Gasmangellage eintritt?

Ich kann dazu keine Prozentangabe machen, ich weiß schließlich nicht, ob beispielsweise der kommende Winter besonders warm oder kalt wird. Wir haben vor drei Wochen Szenarien gerechnet auf Basis der Einschränkungen der Gaspipeline Nord Stream I auf 40 Prozent. Wir haben nun eine Einschränkung auf 20 Prozent, deshalb aktualisieren wir gerade unsere Szenarien.

Wir wissen, dass sich die Industrie bei Einsparungen von mehr als 10 Prozent sehr schwertun wird, da wird es sicherlich zu Produktionseinschränkungen kommen.

Was ich aber schon sagen kann, ist, selbst wenn wir einen normalen, also nicht zu kalten Winter bekommen, aber eine Gaseinsparung unter 20 Prozent haben, wird es sehr knapp. Momentan liegen die Gaseinsparungen aller Verbraucher bei ungefähr 5 Prozent. Und wir wissen auch, dass sich die Industrie bei Einsparungen von mehr als 10 Prozent sehr schwertun wird, da wird es sicherlich zu Produktionseinschränkungen kommen.

Ist eine Einsparung von 20 Prozent Gas bis zum Winter überhaupt realistisch?

Ich glaube, das ist realistisch. Viele Verbraucher haben schon ihre Gasrechnungen und Aufforderungen zu erhöhten Abschlagszahlungen bekommen oder erhalten diese in den nächsten Wochen – und da wird es ein großes Erschrecken geben. Und dann wird jeder Bürger darüber nachdenken, wo und wie er Energie sparen kann. Verbraucherschützer haben berechnet, dass das korrekte Einstellen der Heizung, richtiges Lüften und unterschiedliche Zimmertemperaturen je nach Zimmernutzung zu Einsparungen zwischen 10 und 15 Prozent führen. Auch die Industrie überlegt, wie sie Gas sparen kann. Es wird hier sicherlich auch Einschränkungen aus Preiseffekten geben. 20 Prozent Einsparung sind sicherlich ambitioniert, aber ich halte es angesichts der Lage für machbar.

Falls es trotzdem zu einer Gasmangellage kommt, entscheidet die Bundesnetzagentur darüber, welche großen Energieverbraucher und Industriebetriebe weniger oder gar kein Gas mehr bekommen. Welche Kriterien legen Sie dabei zugrunde?

Wir verteilen kein Gas. Wir schränken einzelne Verbraucher oder in bestimmten Regionen ein. Dabei müssen wir uns sehr genau mit den Fernleitungsnetzbetreibern absprechen, denn die Situation wird allein aufgrund der jeweiligen Speicherstände vor Ort regional unterschiedlich sein. Die Kriterien sind folgende: Haushaltskunden und soziale Dienste sind geschützt und werden nicht abgeschaltet, danach orientieren wir uns an der Erhaltung des lebenswichtigen Bedarfs - wichtig ist die Wärmeversorgung, die Lebensmittelversorgung und die medizinische Versorgung. Auch darf durch Abschaltungen kein direkter Schaden an Personen und Tieren verursacht werden.

Haushaltskunden und soziale Dienste sind geschützt und werden nicht abgeschaltet, danach orientieren wir uns an der Erhaltung des lebenswichtigen Bedarfs.

Woher wissen Sie, welches Unternehmen was produziert?

Wir haben mit der Industrie sehr intensiv daran gearbeitet, unsere Datengrundlage zu verbessern, denn wir müssen zum Beispiel wissen, ob ein Pharma- oder Chemieunternehmen tatsächlich medizinische Produkte herstellt und nicht etwa kurzfristig verzichtbare chemische Grundstoffe. Darüber hinaus müssen wir wissen, was die Pharmaindustrie in ihrer Lieferkette braucht, etwa Verpackungsmaterial und Glasprodukte. All das haben wir abgefragt, um diese Daten in der entsprechenden Situation netzbezogen und mit Blick auf den lebenswichtigen Bedarf zu nutzen.

Am Ende werden dann wohl oft Einzelfallentscheidungen notwendig sein. Besteht nicht in einer Gasmangellage die Gefahr, dass solche Entscheidungen zu viel Zeit kosten?

Wir müssen schnell handeln. Im Jahr 2018 habe ich selbst an einer länderübergreifenden Krisenübung teilgenommen. Da saßen wir sechs Stunden eingeschlossen in einem Krisenraum und haben genau solche Notlagen durchgespielt. Und wir mussten innerhalb von ein, zwei Stunden Entscheidungen treffen – immer auf der Basis unvollständiger Informationen. Genau so werden wir auch der realen Situation handeln müssen, weil sonst Netzzusammenbrüche drohen, die schwerwiegende technische Folgen hätten. Uns ist bewusst, dass wir in einer solchen Lage nie wirklich gute Entscheidungen treffen können und wir bereiten auch die Kolleginnen und Kollegen psychologisch darauf vor, dass das so ist. Aber es wäre unverantwortlich, in der Situation nicht zu handeln.

In einer Gasmangellage können wir nie wirklich gute Entscheidungen treffen. Aber es wäre unverantwortlich, in der Situation nicht zu handeln.

Wie legen Sie sich das für diese Herausforderung nötige „dicke Fell“ zu?

Wie immer im Leben, sind Übungen wie die, von der ich gesprochen habe, gut. Und es ist auch gut, wenn wir den Kolleginnen und Kollegen sagen: „Wir wissen, dass es nicht einfach wird, dass Unternehmen Schadenersatzforderungen an uns stellen und wir für alle möglichen Interessengruppen alles falsch gemacht haben werden. Aber ihr habt eine Aufgabe als Beamte für den Staat – und diese gilt es zu erfüllen.“

Ganz wichtig ist auch, dass wir im engen Austausch mit dem Bundesamt für Bevölkerungsschutz stehen, das ja zum Teil in noch schlimmeren Krisensituationen agieren muss. Von dort bekommen wir wertvolle Hinweise, wie man die Kolleginnen und Kollegen vor zu viel Druck schützt und ihnen die Angst vor dem Handeln nimmt.

Um Engpässen bei der Gasversorgung vorzubeugen, soll bis zum Herbst ein zusätzliches sogenanntes Regelenergieprodukt eingeführt werden, das kurzfristige Abschaltpotenziale von Industrieverbrauchern nutzt. Wie soll das genau funktionieren?

Das Instrument soll im Oktober starten und die Industrie soll Angebote abgeben können, den Gasverbrauch im Ausmaß X für einen Zeitraum Y zum Preis Z zu reduzieren. Dieses Angebot kann dann vom Marktgebietsverantwortlichen abgerufen werden, etwa wenn aufgrund sinkender Temperaturen ein erhöhter Gasverbrauch zu erwarten ist. Das Unternehmen, das Gas einspart, bekommt dann die vereinbarte Erstattung.

Barbie Kornelia Haller ist Vizepräsidentin der Bundesnetzagentur; Foto: Bundesnetzagentur Wie groß ist denn die Begeisterung der Unternehmen für das Instrument?

Die Unternehmen nehmen es auf jeden Fall sehr positiv auf, dass sie selbst etwas tun können und nicht hilflos in eine Situation geraten, in der sie von einer Behörde aufgefordert werden, ihre Produktion zu reduzieren.

Natürlich müssen die Unternehmen jetzt ins Gespräch mit ihren Lieferanten gehen, denn diese müssen ja dann die Gasmenge, die die Unternehmen einsparen wollen, an den Marktgebietsverantwortlichen abtreten. Das muss vertraglich geregelt werden und braucht natürlich Zeit.

Um möglichst bald von russischem Gas unabhängig zu werden, sollen Flüssiggasterminals gebaut werden. Gibt es überhaupt genügend globale Kapazitäten, damit Deutschland wie gewünscht Flüssiggas importieren kann?

Davon gehe ich aus – nach allem, was ich von der Bundesregierung dazu höre. Es sind ja schon vier Schiffe unter Vertrag genommen worden, die ab Ende dieses Jahres anlanden werden, und die Bundesregierung bemüht sich um weitere. Natürlich ist das Marktumfeld schwierig und es ist alles auch eine finanzielle Frage, aber da tut die Bundesregierung, glaube ich, alles, was getan werden muss.

Das wäre jetzt der Blick auf die Infrastruktur. Gibt es denn auch genug Flüssiggas?

Auch davon gehe ich aus. Die zuständigen Unternehmen schließen jetzt die entsprechenden Verträge und sichern sich dahingehend ab, dass dann genügend Flüssiggas geliefert wird.

All diese Maßnahmen machen Energie nicht billiger. Mit welchen Energiekosten müssen die Haushalte in Deutschland in den kommenden Monaten und Jahren rechnen?

Das ist schwierig zu sagen, weil es ganz unterschiedliche Verträge zwischen Verbrauchern und Energieversorgern mit ganz unterschiedlichen Laufzeiten gibt. Aber ich denke, dass eine vierköpfige Familie jährlich mit mehr als Tausend Euro zusätzlich rechnen muss.

Ein Blick in die Glaskugel: Werden wir aus Ihrer Sicht irgendwann in puncto Energieversorgung wieder so etwas wie Normalität erreichen?

Wir müssen zu einer neuen Normalität kommen, in der wir nicht mehr so abhängig von einzelnen Lieferanten sind, sodass die Versorgungssituation stabiler ist und wir keine Ad-hoc-Maßnahmen treffen müssen. Dafür haben wir schon rechtliche Vorgaben getroffen. Aber einen Zustand auf der Preisseite, wie wir ihn vor dem russischen Angriff auf die Ukraine hatten, kann ich mir nicht vorstellen. Die Verbraucher werden also auch langfristig mit höheren Kosten rechnen müssen.

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