Interview: „Viele Tafeln erhalten weniger Lebensmittel“
Sirkka Jendis ist Geschäftsführerin der Tafel Deutschland. Im iwd-Interview erklärt sie, wie die Tafeln mit den teils rückläufigen Lebensmittelspenden und der gestiegenen Zahl armutsbetroffener Menschen umgehen.
- Im Jahr 2023 sind die Lebensmittelspenden seitens des Handels für die Tafeln weiter zurückgegangen, sagt Sirkka Jendis, Geschäftsführerin der Tafel Deutschland.
- „Aktuell führt etwa jede dritte Tafel eine Warteliste oder hat einen temporären Aufnahmestopp verhängt", so Jendis.
- Dabei werden die Tafeln für immer mehr Menschen zur Notwendigkeit. Daran werde auch die Erhöhung des Bürgergelds im Januar 2024 nichts ändern.
Die Tafeln hatten 2022 aufgrund eines geringeren Spendenvolumens seitens des Handels und einer deutlich höheren Nachfrage durch ukrainische Geflüchtete ein schwieriges Jahr. Hat sich diese Entwicklung 2023 fortgesetzt?
Ja, die Lebensmittelspenden sind auch 2023 weiter zurückgegangen. Da wir zwei Seiten einer Medaille sind – also einerseits armutsbetroffenen Menschen helfen und andererseits Lebensmittelverschwendung reduzieren wollen –, begrüßen wir es natürlich, wenn im Handel weniger Lebensmittel auf dem Müll landen. Für die Tafeln vor Ort bedeutet das aber häufig, dass weniger Lebensmittel vorhanden sind. Wenn dann mehr oder zumindest gleich viele Menschen zu den Tafeln kommen, ist für die einzelne Person in der Folge weniger da.
Warum spendet der Handel weniger?
Dafür gibt es mehrere Gründe. Zum einen versucht der Handel, durch digitale Systeme die Lebensmittel schlicht besser zu disponieren. So bleibt weniger übrig. Zum anderen kamen 2022 mit dem Krieg in der Ukraine Lieferengpässe hinzu, wodurch der Handel selbst weniger zur Verfügung hatte. Außerdem werden Supermärkte bei der Lebensmittelrettung selbst immer kreativer. Ein Beispiel dafür ist die Lidl-Spendenbox. Bei dieser Aktion können Kundinnen und Kunden mehr kaufen, als sie brauchen, und anschließend die Spendenbox befüllen.
Etwa ein Drittel der Tafeln führt aktuell eine Warteliste oder hat einen temporären Aufnahmestopp verhängt.
Tragen auch Geschäftsmodelle wie Too Good To Go dazu bei, dass der Handel weniger Lebensmittel an die Tafeln abgibt?
Das wissen wir nicht genau. Allerdings hat die Tafel mit vielen Start-ups im Bereich der Lebensmittelverschwendung Kooperationen – sowohl mit Too Good To Go als auch mit Foodsharing. Mit den Start-ups einigen wir uns auf das Prinzip „Tafel first“ mit der Begründung, dass wir im Gegensatz zu den anderen Organisationen ein sozialer Lebensmittelretter sind. Das funktioniert fast immer sehr gut. Darüber hinaus nimmt zum Beispiel Foodsharing auch häufiger Lebensmittel an, die die Tafeln nicht loswerden.
Die Tafeln haben wegen des höheren Andrangs im Jahr 2022 oft Aufnahmestopps verhängen müssen. Hat sich die Lage 2023 weiter verschärft?
Aus einer Blitzumfrage vom Sommer dieses Jahres wissen wir, dass sich diesbezüglich wenig verändert hat. Aktuell führt etwa ein Drittel der Tafeln eine Warteliste oder hat einen temporären Aufnahmestopp verhängt.
Sind auch 2023 die Lebensmittelrationen für diejenigen, die zur Tafel kommen, kleiner geworden?
Das kann man nicht verallgemeinernd für alle Tafeln sagen. Es gibt allerdings eine Tendenz dahin, dass es für die einzelne Person weniger wird. Ich habe trotzdem das Gefühl, dass die Tafeln durch kreative Konzepte einigermaßen gut mit der gestiegenen Zahl armutsbetroffener Menschen umgehen können. Wobei auch klar erwähnt werden muss, dass die zum größten Teil ehrenamtlichen Helferinnen und Helfer vor Ort an ihren physischen und psychischen Belastungsgrenzen sind.
Sie sprechen von kreativen Konzepten der Tafeln. Welche sind das?
Dazu zählt beispielsweise, dass Personen nur alle zwei Wochen kommen oder kleinere Pakete erhalten, bestimmte Ausgabestellen an manchen Tagen nur für bestimmte Gruppen – zum Beispiel Familien – öffnen oder Ausgabestellen ihre Öffnungszeiten generell anpassen.
Reicht das Essen denn dann für alle? Oder müssen Menschen in Deutschland hungern?
Hierzulande von „Hungern“ zu sprechen, finde ich im Vergleich zu anderen Regionen der Welt schwierig. Wir stellen aber fest, dass die Tafel für immer mehr Menschen zur Notwendigkeit wird. Sie ist also oft mehr als eine Unterstützung, die armutsbetroffenen Menschen den Alltag ein wenig erleichtert und es ermöglicht, dass Geld für den Kinobesuch oder den Schulausflug übrig bleibt.
Ab Januar steigt das Bürgergeld. Werden dann weniger Menschen zu den Tafeln gehen?
Ich erwarte dadurch keine große Veränderung. Es ist gut, dass das Bürgergeld steigt, aber es ist nicht krisenfest und ändert nichts an der Situation derer, die arbeiten und trotzdem zur Tafel kommen, weil sie nicht genug verdienen.
Sie fordern als Dachverband der mehr als 970 Tafeln in Deutschland schon seit Langem staatliche Unterstützung. Warum und wofür?
Vor allem bei der Lebensmittelrettung fordern wir Unterstützung vom Staat. Konkret: in puncto Logistik und der Kooperation mit Herstellern. Immerhin hat sich die Politik das Ziel gesetzt, die Lebensmittelverschwendung bis 2030 um die Hälfte zu reduzieren. Wir glauben nicht, dass das bis dahin funktionieren wird.
Die Bekämpfung von Armut ist für uns Aufgabe der Politik, da unterstützen wir nur und stehen für Themen wie die Kindergrundsicherung oder armutsfeste Löhne ein.
Aktuell wird die Lage – mehr armutsbetroffene Menschen, weniger Lebensmittelspenden, Belastung im Ehrenamt – allerdings eher auf den Schultern von sozialen Organisationen wie uns ausgetragen.
In der Vorweihnachtszeit spenden Menschen für gewöhnlich besonders viel. Bemerken Sie das auch in Ihrer Organisation?
Ja, auch bei uns ist das letzte Quartal das stärkste – allen voran der Dezember. In der Adventszeit 2022 haben vor allem die privaten Geldspenden zugenommen – eine frohe Botschaft, die, wie ich finde, zeigt, dass wir als Gesellschaft auch in schwierigen Zeiten solidarisch miteinander umgehen.