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Interview: „Kiel startet jetzt erst richtig durch“

Im Dynamikvergleich des aktuellen IW-Regionalrankings liegt Kiel auf dem ersten Platz. Welche Maßnahmen in der Stadtentwicklung dafür ausschlaggebend waren, warum die Hafenstadt vor allem für junge Menschen attraktiv ist und warum es Städte wirtschaftlich oft schwerer haben als Landkreise, erklärt Ulf Kämpfer, Oberbürgermeister von Kiel und stellvertretender Präsident des Deutschen Städtetags.

Kernaussagen in Kürze:
  • Im Dynamikvergleich des IW-Regionalrankings liegt Kiel auf Platz 1. Dass sich die Stadt trotz Corona-Krise so dynamisch entwickelt hat, liegt laut Oberbürgermeister Ulf Kämpfer unter anderem am breiten Wirtschaftsspektrum der Hafenstadt und des dort stark vertretenen Gesundheitssektors.
  • Laut Kämpfer besitze Kiel fast alle Vorteile der größten deutschen Städte, aber nur wenige von deren Nachteilen – beispielsweise steigen die Mieten nicht so stark und mittelständische Unternehmen finden leicht Fachkräfte.
  • Kiel gelänge es aufgrund der guten Rahmenbedingungen auch immer besser, die Menschen langfristig in der Stadt zu halten.
Zur detaillierten Fassung

Finden Sie, Kiel ist eine dynamische Stadt?

Wir sind vermutlich nicht die dynamischste Stadt in Deutschland – das ist letztendlich aber auch schwer objektiv zu messen. Aber ich würde sagen, dass wir zu den 10 Prozent der dynamischsten deutschen Städte gehören.

Kiel hat sich in der Corona-Pandemie dynamischer entwickelt als alle anderen deutschen Städte und Kreise. Können Sie diese Entwicklung an konkreten Dingen festmachen?

Das ist schwer zu sagen, da man die meisten Strategien ja nicht in zwei Jahren, sondern eher in zehn bis 20 Jahren umsetzt. Ich bin seit 2014 Oberbürgermeister und habe die ersten Jahre meiner Amtszeit auch damit verbracht, Projekte meiner Vorgänger umzusetzen. Mittlerweile habe ich selbst zahlreiche Projekte angestoßen – die sind dann aber auch erst in vielen Jahren fertig. Wir planen zum Beispiel gerade ein milliardenschweres, hochwertiges ÖPNV-System – die erste Linie wird aber erst in den 2030er Jahren eröffnet werden. Vielleicht wird dann irgendwann einer meiner Nachfolger sagen können, wie dynamisch Kiel gerade ist – aufgrund von Projekten, die ich lange vorher auf den Weg gebracht habe. Ulf Kämpfer ist Oberbürgermeister von Kiel und stellvertretender Präsident des Deutschen Städtetags; Foto: Pepe Lange

Solche langfristig ausgelegten Pläne führen dazu, dass es in Untersuchungen wie dem IW-Regionalranking zu Verzerrungen kommen kann. Ein Beispiel: Wir haben beim Indikator Lebensqualität unter anderem so stark zugelegt, weil sich der Anteil der Grünflächen in Kiel stark erhöht hat. Das hängt aber wohl mit einem großen Konversionsgebiet zusammen, in dem viele Wald- und Wasserflächen liegen und bei dem die Stadt Kiel vor einem Jahr Eigentümer geworden ist. Das Gelände gehörte vorher dem Bund und stand den Bürgerinnen und Bürgern bereits seit sieben Jahren offen. Für die Kieler hat sich also nichts verändert, trotzdem sind wir im Ranking deswegen aufgestiegen.

Ähnlich ist es bei der Gewerbesteuer. Wir hatten 2020 eine Gewerbesteuernachzahlung eines Unternehmens in Höhe von 70 Millionen. Normalerweise hätte die Steuer gestückelt über sieben Jahre gezahlt werden müssen, jetzt kam sie aber als Einmal-Nachzahlung. Das macht sich in der aktuellen Statistik super – in zwei Jahren steht ohne diesen Sondereffekt dann möglicherweise plötzlich ein großer Rückgang der Gewerbesteuereinnahmen zu Buche.

Viele Städte in der Bundesrepublik hatten und haben wirtschaftlich mit den Folgen der Corona-Krise zu kämpfen. Warum gilt das nicht für Kiel?

Wir haben innerhalb der vergangenen acht Jahre eine ganze Menge getan, um die Robustheit unserer Wirtschaft zu erhöhen. Und die Wirtschaftsstruktur hat sich schon in den vergangenen Jahrzehnten erheblich verändert, früher war sie in Kiel sehr stark auf Werften und deren Zulieferer ausgerichtet. Mittlerweile haben wir hier aber ein breites Wirtschaftsspektrum, was uns in der Corona-Krise enorm geholfen hat. In der Pandemie hatten wir kaum Arbeitsplatzverluste – die positive Entwicklung, die sich schon vor 2020 auf unserem Arbeitsmarkt gezeigt hat, hat sich aufgrund des hier stark vertretenen Gesundheitssektors sogar tendenziell noch beschleunigt.

Ich glaube, die dynamische Entwicklung Kiels war kein Strohfeuer, wir starten jetzt erst richtig durch. Das Kreuzfahrt- und Tourismusgeschäft kommt nach zwei schweren Jahren wieder ins Rollen. Und die Universitäten kehren zurück zur Präsenzlehre, sodass die Studenten nun auch wieder in der Stadt sind, ein wichtiger Faktor für eine dynamische Entwicklung.

Beim Saldo aus Gewerbean- und -abmeldungen zwischen 2018 und 2020 liegt Kiel laut IW-Regionalranking auf Platz eins. Warum interessieren sich Unternehmen plötzlich so stark für Kiel als Wirtschaftsstandort?

Kiel besitzt fast alle Vorteile der größten deutschen Städte, aber nur wenige von deren Nachteilen. Auch wenn hier die Mietpreise wie überall steigen, ist Wohnen in Kiel zum Beispiel bei Weitem nicht so teuer wie in München oder in Köln. Wir sind ein sehr beliebter Standort für mittelständische Firmen, da ihnen hier die Suche nach Fachkräften nicht so schwerfällt wie anderswo, wo sie mit den ganz großen Playern konkurrieren müssen. Zudem ist unsere Wirtschaft digital gut aufgestellt. Wir haben beispielsweise in der IT-Branche mittlerweile mehr Arbeitsplätze als in der gesamten Industrie. Investoren und Firmen haben aus all diesen Gründen einen zweiten Blick auf die Stadt geworfen. Früher hatten wir eher das Image einer grauen Maus, das hat sich stark gewandelt.

Trotzdem steht Kiel beim Wanderungssaldo der 25- bis 50-Jährigen noch schlecht da, in dieser Altersklasse verlassen deutlich mehr Menschen die Stadt als hinziehen. Ist Kiel als dauerhafter Wohnort dann doch nicht attraktiv genug?

Gerade für junge Leute ist Kiel sehr attraktiv. Wir haben vier starke Hochschulen, veranstalten jedes Jahr ein großes Start-up-Festival und die Digitale Woche, bieten alternative Kreativzentren und sind die einzige deutsche Großstadt am Meer. Im Jahr 2021 haben wir den deutschen Nachhaltigkeitspreis gewonnen, was unsere Klimaschutzbemühungen der vergangenen Jahre bestätigt. Zum Beispiel fahren unsere Fähren bald alle hybrid oder elek-trisch. Für uns ist es ein echter Booster, dass wir in Bereichen, auf die junge Leute großen Wert legen – neben Nachhaltigkeit zum Beispiel auch Diversität und die Work-Life-Balance –, so stark sind, da wir so immer mehr Menschen bei der Wahl ihres Wohnorts von Kiel überzeugen können.

Allerdings bilden wir an unseren Hochschulen nun mal Fachkräfte für den überregionalen Bedarf aus – seien es Lehrer, Ärzte, Juristen oder viele andere Hochqualifizierte. Insgesamt haben wir in der Stadt 35.000 Studenten aus ganz Deutschland, da kann man einfach nicht davon ausgehen, dass alle in Kiel bleiben – das ist das Schicksal von Hochschulstädten.

Gerade für junge Leute ist Kiel sehr attraktiv. Es gelingt uns auch immer besser, die Menschen in der Stadt zu halten.

Doch es gelingt uns immer besser, die Menschen in der Stadt zu halten. So kehren mittlerweile viele Leute, die in Kiel aufgewachsen sind, hierher zurück. Bei mir war es genauso: Ich bin zwar in der Nähe von Kiel aufgewachsen, habe dann aber unter anderem in New York und Berlin gelebt. Als wir aus beruflichen Gründen meiner Frau wieder nach Kiel zogen, war der Plan, zwei bis drei Jahre zu bleiben – und jetzt bin ich seit zwanzig Jahren wieder hier und bin Oberbürgermeister.

Kiel ist meist nicht die Adresse der Sehnsucht, aber die Leute bleiben inzwischen sehr oft hier – nicht aus Not, sondern ganz bewusst, weil sie sich hier wohlfühlen und insgesamt gute Rahmenbedingungen vorfinden.

Die letzten zehn Plätze des IW-Rankings werden ausschließlich von kreisfreien Städten belegt. Haben es Städte wirtschaftlich schwerer als Landkreise?

Grundsätzlich gibt es ebenso starke Städte wie schwache Landkreise. Wie Städte abschneiden, kann auch davon abhängen, wo man im Ranking die Stadtgrenze zieht – in Kiel haben wir zum Beispiel einen sehr starken Speckgürtel mit 100.000 Einwohnern, die nicht zu Kiel gehören. Würden diese dazugezählt, wären wir auch im Niveauvergleich des Regionalrankings deutlich weiter vorne. Man kann aber zumindest generell sagen, dass es Städte dahingehend schwerer haben, dass sich sozial Benachteiligte und arme Menschen eher in den Ballungszentren niederlassen. Indem sich die Städte dieser Menschen annehmen und auch viel Geld investieren, schultern sie gesamtgesellschaftliche Probleme, mit denen viele Landkreise nicht zu kämpfen haben.

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