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Interview: „Die Streitkultur wurde eingeschläfert“

Die Welt ist im Umbruch – nicht nur wegen Corona. Was das für die neue Bundesregierung bedeutet und wie die Arbeit der Großen Koalition zu bewerten ist, erklärt IW-Direktor Michael Hüther im iwd-Interview. Gerade hat er mit Institutskollegen ein Buch zur pandemie-erschöpften Globalisierung publiziert; außerdem ist eine große IW-Studie zu den fundamentalen Herausforderungen erschienen, die Wirtschaft und Gesellschaft auf die Probe stellen.

Kernaussagen in Kürze:
  • IW-Direktor Michael Hüther beklagt die ambitionslose Umsetzungspolitik der Merkel-Regierung und wünscht sich maximal zwei Legislaturperioden für eine Kanzlerin oder einen Kanzler.
  • Für ihn ist der Strukturwandel das drängende Thema, das nach der Wahl mehr denn je die Aufmerksamkeit der Politik verlangt.
  • An der schon lange geforderten Investitionsoffensive des deutschen Staates hält er fest.
Zur detaillierten Fassung

Herr Hüther, werden Sie Angela Merkel vermissen?

Nein. Ich halte 16 Jahre Kanzlerschaft für zu lang. Demokratie lebt von Wechsel – ich bin ein Anhänger von der Beschränkung auf zwei konsekutive Amtszeiten.

Am Anfang war die Corona-Pandemie eine Fahrt auf Sicht, Fehleinschätzungen oder überzogenes Handeln seitens der Politik waren entschuldbar. Doch mittlerweile wirkt das Corona-Management oft stümperhaft, unorganisiert und selten faktengetrieben. Teilen Sie diesen Befund?

Schon im zweiten Halbjahr 2020 hat die Politik Maßnahmen beschlossen, die ihr Ziel nicht erreicht haben: Sie hat es versäumt, die Gefährdeten zu schützen. Das wird klar, wenn man sich die altersspezifischen Todeszahlen bis Ende des Jahres 2020 anschaut. Aber aufgearbeitet wurde dieses Versagen seither nicht.

Der Strukturwandel bleibt nach der Wahl das zentrale Thema, sagt IW-Direktor Michael Hüther. Er fordert von der Politik ein Ende der „ambitionslosen Umsetzungspolitik“ der vergangenen Jahre.

Die Lockdown-Maßnahmen danach, inklusive der Bundesnotbremse, haben eine eigene Dynamik entwickelt und mich in ihrer Begründung nicht überzeugt. Vor allem wurden die Kollateraleffekte – also die Auswirkungen zum Beispiel auf Schüler, Integrationsprozesse oder den gesellschaftlichen Zusammenhalt – nie angemessen gewürdigt.

Positiv bewerte ich allerdings, dass die deutsche Politik nie eine Zero- oder No-Covid-Strategie verfolgt hat. In jenen Ländern, die das zum Beispiel in Asien versucht haben, zeigt sich jetzt ja, dass das – wegen Mutationen – unrealistisch ist und letztlich – bei offenen Grenzen – nicht funktionieren kann, die Kosten aber immens sind.

Was würden Sie sich momentan konkret von der Politik mit Blick auf Corona wünschen?

Es werden durchaus die richtigen Diskussionen geführt. Die Pandemie-Politik sucht nach anderen Indikatoren als der Inzidenz. Gesetze und Automatismen, die es bislang gibt, werden überarbeitet. Schließlich sind über 70 Prozent der Impfbaren geimpft, wir müssen also neu über Risiken sprechen. Die Situation ist gänzlich anders als im Herbst 2020.

„Erschöpft durch die Pandemie: Was bleibt von der Globalisierung?“ – so lautet der Titel Ihres neuen Buches. Welche Antwort auf diese Frage geben Sie mit Ihren Co-Autoren Matthias Diermeier und Henry Goecke?

Im Frühjahr 2020 kamen Wirtschaft und Gesellschaft mit dem ersten Lockdown völlig zum Erliegen. Die Effekte wirken bis heute nach, denn Lieferketten sind noch immer gestört – das hat man damals nicht vorhergesehen.

Zum Glück hat die Politik daraus gelernt und die weiteren Einschränkungen haben zumindest die Industrie ausgenommen.

Michael Hüther ist Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft; Foto: IW Medien Allerdings hat die Pandemie von allen Abstand verlangt und bei vielen Stillstand ausgelöst. Das hat den Wert von Metropolen, Agglomerationsräumen deutlich gemindert. Denn die Vorteile dieser Hotspots, ihre positiven externen Effekte, fielen kaum noch ins Gewicht. Doch wir brauchen diese Innovationszentren. Die Metropolregionen weltweit müssen gestärkt werden, als Knoten in globalen Netzen wieder als Keimzellen für zukunftsweisende Entwicklungen stehen.

Und noch etwas anderes arbeiten wir im Buch heraus: Corona hat gezeigt, dass sich Risiken in einer globalisierten Welt überlappen – im Handel und in der Gesundheit zum Beispiel. Das muss mit Blick auf internationale Organisationen und Vereinbarungen wieder stärker in den Fokus rücken, weshalb es gut und wichtig ist, dass die Amerikaner sich nach Trump jetzt wieder stärker beteiligen.

Über Corona hinaus: Was sind die größten Herausforderungen für die neue Bundesregierung?

Das zentrale Thema bleibt der Strukturwandel. Wir brauchen beispielsweise einen verlässlichen CO2-Preis für alle Sektoren – das ist bislang nur für die Bereiche Industrie und Energie geübt. Und das muss über Deutschland und auch über Europa hinaus erfolgen.

Aber wie verhindert man, dass die CO2-Emmissionen, die Deutschland bis 2045 einsparen will, nicht in China ausgestoßen werden, das ja erst 2060 CO2-neutral werden will?

Die einfache Antwort lautet: Wir müssen es gut machen, wir müssen zeigen, dass es funktioniert.

Was ich damit meine: Die Chinesen haben sich sicher auch ein späteres Datum gewählt, weil sie sich erst mal anschauen wollen, wie es bei uns klappt. Zudem feiern sie 2049 das 100. Staatsjubiläum, da will man sich nicht vorher einschränken. Dennoch ist die Erkenntnis in China ja da, dass sich vieles radikal ändern muss, weil die Ressourcen der Erde endlich sind. Und wenn wir zeigen, dass Wohlstand und Umweltschutz bei allen Anpassungslasten Hand in Hand funktionieren können, werden sie mitmachen.

Die IW-Studie nennt vier zentrale Disruptoren: Dekarbonisierung, Deglobalisierung, demografischer Wandel und Digitalisierung. Welche fundamentale Herausforderung hat die größte Aufmerksamkeit verdient?

Die vier Ds liegen alle in einem Bett, um es salopp zu formulieren. Jeder Disruptor beeinflusst die anderen und hängt selbst von ihnen ab. Alle vier sind außerdem im internationalen Kontext eingebettet.

Aber in dieser globalen Perspektive liegt auch der Hebel, den wir haben – gerade bei der Dekarbonisierung, zum Beispiel mit „Fit for 55“ als europaweitem Projekt. Aber wir brauchen auch die USA, Kanada, Australien mit im Boot für einen schlagkräftigen Klima-Klub, der dann auch Richtung China wirken kann.

Wir können unsere internationale Verantwortung allerdings nicht nur im Bereich der Klimapolitik annehmen, sondern müssen das auch im Bereich der Sicherheitspolitik tun – was von den USA ja zu Recht immer wieder angemahnt wird.

Zurück zur innerdeutschen Politik: Als es galt, die Folgen der Corona- Lockdowns abzufedern, hat die Regierung nicht lange gezögert und viel Geld in die Hand genommen. War das richtig?

Ja, das war es.

Natürlich kann man immer über die genaue Ausgestaltung streiten, die Zielgenauigkeit oder den Umfang infrage stellen. Aber beispielsweise das Kurzarbeitergeld als größte Maßnahme hat die Wirtschaft stabilisiert. Und auch all das, was im Konjunkturprogramm vor allem für ärmere Haushalte getan wurde, war gut und richtig und hat funktioniert.

Die Nachfrage in Deutschland ist schon jetzt auf dem Stand von vor der Pandemie. Wir müssen uns nun dringend um die Angebotsseite kümmern, Stichwort Lieferengpässe. Außerdem um das Thema Arbeitsmarkt, also den Fachkräftemangel, der sich immer stärker abzeichnet.

Schon vor der Pandemie forderten Sie einen mehrere Hundert Milliarden Euro schweren Fonds, um Deutschland zu modernisieren. Jetzt ist die Staatsverschuldung durch Corona in die Höhe geschossen – muss das Projekt also vorerst eingemottet werden?

Wir bewegen uns aktuell bei einer Staatsverschuldung von knapp über 70 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Sie lag nach der Finanzkrise deutlich höher, nämlich bei 80 Prozent, der Konsolidierungspfad ist also für sich genommen gar nicht ambitionierter. Aus meiner Sicht sollte Deutschland allerdings zwei Dinge tun:

Erstens wäre es sinnvoll, die Corona-Schulden über einen langen Zeitraum – fünf Jahrzehnte plant beispielsweise die Landesregierung von Nordrhein-Westfalen – zurückzuzahlen.

Zweitens muss man sich den drängenden Investitionsthemen ernsthaft stellen. Das kann über den normalen Haushalt nicht gelingen, deshalb bleibt die Idee eines Deutschlandfonds relevant.

Gern wird von Ökonomen auf die träge Politik geschimpft. Aber sind nicht auch viele deutsche Firmen träge geworden?

Dieser Vorwurf hält dem Realitätscheck nicht stand. Der Ökonom Walter Eucken hat die Vorstellung der Enteignung durch den Markt geprägt – die einzig legitime Form der Enteignung. Das heißt: Unternehmen können nicht so träge sein wie der Staat, sie sind im ständigen Wettbewerb. Wenn sie auf Veränderungen nicht reagieren und sich nicht an neue Bedarfe anpassen, gehen sie pleite. Sie können nicht langweilig oder müde sein – der Staatsapparat leider schon.

Womit wir beim Wahlkampf wären: Inhaltlich wird noch immer wenig diskutiert, es geht viel um Personen und Verhalten. Hat jedes Volk den Wahlkampf, den es verdient?

Irgendwie schon. Der Wahlkampf ist aber nicht vom Himmel gefallen. Er ist das Ergebnis von 16 Jahren entpolitisierter Regierungsform. In Deutschland hat man verlernt, miteinander zu streiten. Dabei ist Streit so wichtig, denn dann ringt man um den besten Weg, die beste Lösung. Dahin müssen wir zurückkehren. Doch die Streitkultur wurde eingeschläfert. Der Preis ist hoch: eine gesellschaftliche Fragmentierung, weil das konstruktive Ringen gar nicht mehr versucht wird.

Momentan geht es um Work-Life-Balance, Homeoffice, ein bedingungsloses Grundeinkommen und einen höheren Mindestlohn. Ist das angebracht?

Darüber kann man sich natürlich streiten, aber die Themen sind nun einmal auf der Tagesordnung. Ich möchte jetzt nicht jeden dieser Pläne kommentieren, aber wie Sie wissen, beschäftige ich mich und beschäftigen wir uns im Institut auch mit der Frage nach Arbeitsort und Arbeitsweise.

Für mich ist es ganz wichtig, dass bei aller Flexibilität und allem Homeoffice so kluge Lösungen gefunden werden, dass ungeplante Kommunikation stattfindet. Firmen sind mehr als eine Ansammlung von Individualkultur. Wir müssen uns fragen, was uns Unternehmen wert sind mit ihrer Funktion und Kultur. Unternehmenskultur kann man nicht im Homeoffice entwickeln und bewirtschaften.

Maskendeals, Testskandal, Mautmisere, Flutkatastrophe, falsche Daten zur Intensivbettenbelegung und zur Impfquote, der Rückzug aus Afghanistan: Ist Deutschland auf dem Weg zur Bananenrepublik?

In einer Bananenrepublik macht ja jeder, was er will, vor allem auf Kosten der Allgemeinheit. Das trifft auf Deutschland nicht zu.

Vielmehr haben wir 16 Jahre ambitionslose Umsetzungspolitik erlebt. Wenn sich Politik von der Spitze her nicht darum kümmert, was mit ihren großen Projekten und Vorgaben geschieht, wird nur noch das Nötigste gemacht. Wenn die Politik nicht mehr fordert, prägt das das System. Teilweise verstecken sich Mitarbeiter der öffentlichen Verwaltung momentan hinter Corona.

Tatsächlich verstehe ich auch nicht, weshalb so viele – jenseits des Gesundheitssektors – einen Corona-Gehaltsbonus fordern. Da ist eine Mitnahmementalität entstanden, die nicht gut ist.

Was rät Michael Hüther, studierter Historiker und Volkswirt, der neuen Kanzlerin oder dem neuen Kanzler?

Sie oder er sollte sich nicht so sehr von Kommunikationsagenturen beraten lassen, sondern Probleme offen ansprechen und Alternativen transparent deutlich machen. Denn auch der scheinbar bequeme Kurs erzeugt hohe Kosten, die dürfen wir nicht verschweigen.

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