Verschwörungstheorien Lesezeit 8 Min.

Interview: „Der Staat muss den Bürgern stärker vertrauen“

Die Corona-Pandemie hat dazu geführt, dass sich Verschwörungsmythen extrem verbreitet haben. Über die Ursachen dieser Entwicklung und was der Staat sowie jeder Einzelne dagegen tun kann, sprach der iwd mit Dominik Enste, Leiter des Kompetenzfelds Verhaltensökonomik und Wirtschaftsethik am Institut der deutschen Wirtschaft.

Kernaussagen in Kürze:
  • Menschen, die an Verschwörungstheorien glauben, haben meist Angst, die Kontrolle über ihr Leben zu verlieren – erklärt IW-Verhaltensökonom Dominik Enste im iwd-Interview.
  • Der Staat sollte daher in der aktuellen Pandemie-Bekämpfung eine glaubwürdige, transparente und vor allem langfristige Strategie verfolgen.
  • Wenn jemand im privaten Umfeld an Verschwörungsmythen glaubt, ist es laut Enste besonders wichtig, diesem Menschen zunächst zuzuhören und zu verstehen, welche Sorge dahintersteckt.
Zur detaillierten Fassung

Wie kommt es, dass so viele neue Verschwörungsmythen während der Pandemie entstanden sind? Liegt es nur daran, dass die Leute mehr Zeit haben, im Internet auf Abwege zu geraten?

Die Zeit ist nicht der entscheidende Faktor, vielmehr die Krisenerfahrung und die Tatsache, dass wir eine globale Verunsicherung spüren. Außerdem suchen Menschen, die generell Angst haben, die Kontrolle über ihr Leben zu verlieren, eine möglichst einfache Erklärung für die aktuelle Situation – und eine Bestätigung dieser Erklärung finden sie dann auch noch im Internet.

Was kann der Staat gegen diesen gefühlten Kontrollverlust seiner Bürger tun?

Das Wichtigste wäre, eine glaubwürdige, transparente und vor allem langfristige Strategie zu verfolgen. Das war zu Beginn der Pandemie sicherlich schwierig, weil auch die Politik vor einer völlig neuen Situation stand und zu schnellem Handeln gezwungen war. Aber im Laufe des Jahres hätte man den Menschen das Gefühl der Kontrolle zurückgeben können, indem man klarer aufgezeigt hätte, welches die langfristigen Ziele sind. Und dann müssen die Dinge, die der Staat organisiert, eben auch gut funktionieren, damit nicht der Eindruck eines Staatsversagens entsteht, sei es im Bereich der Bildung oder bei der Bestellung und Verteilung von Impfstoffen.

Die Politik sollte in der Pandemie-Bekämpfung eine glaubwürdige, transparente und vor allem langfristige Strategie verfolgen.

Gelingt das, dann haben die Menschen auch wieder das Gefühl, dass der Staat schon weiß, was er tut und warum. So war es ja mehr oder weniger im März 2020, nur hat das Vertrauen im Laufe der Zeit gelitten, weil die Politik ihre Maßnahmen schlechter erklärt hat.

Das heißt, es hätte einen längerfristigen Plan gebraucht, welche Maßnahmen in welcher Phase der Pandemie ergriffen würden?

Zumindest wäre ein verständlicher, transparenter Plan sinnvoll, der sich auch nicht nur auf einzelne Inzidenzwerte fokussiert. Vor allem sollte die Politik Maßnahmen beschließen, die sie dann auch kontrollieren und Verstöße bestrafen kann. In Köln zum Beispiel gilt am Rheinufer – da schaue ich vom IW aus drauf – eine Maskenpflicht von 10 bis 22 Uhr. Würde ich dort eine Maske tragen, wäre ich fast der Einzige. Das zeigt, dass eine solche Regelung keinen Sinn ergibt – der Staat untergräbt selbst seine Macht, wenn er 14-seitige Verordnungen mit nicht mehr nachvollziehbaren Regelungen herausgibt. Wer liest die denn, bevor er nach draußen geht und zum Beispiel ein Geschäft betritt?

Was also wäre für die nächste Zeit der bessere Weg?

Weniger ist mehr. Wenn die Bundesnotbremse Ende Juni ausläuft, würde ich mir einen Strategiewechsel hin zu wenigen, klaren Regeln wünschen. Und vor allem muss der Staat darauf vertrauen, dass die Bürger nach der bisherigen Pandemie-Erfahrung selbst wissen, was zu tun ist, um eine vierte Welle zu vermeiden: Maske tragen, Abstand halten, sich testen lassen – zum Beispiel, wenn man aus dem Urlaub zurückkehrt – und Kontakte beschränken.

Der Staat muss darauf vertrauen, dass die Bürger nach der bisherigen Pandemie-Erfahrung selbst wissen, was zu tun ist, um eine vierte Welle zu vermeiden.

Gerade bei Letzterem sollte der Staat auf zu detaillierte Vorgaben verzichten und nicht ständig nur auf Sieben-Tage-Inzidenzen schauen. Allgemeine Vorgaben und eine längerfristige Perspektive sind geboten und man sollte bei der Inzidenzentwicklung auf einen längeren Zeitraum schauen. Das würde für mehr Verlässlichkeit sorgen, sodass zum Beispiel auch Gastronomen, die heute ihr Lokal wieder öffnen dürfen, nicht schon in ein paar Tagen vielleicht wieder schließen müssen.

Die Politik kann Vertrauen nur wieder zurückgewinnen, wenn sie selbst den Bürgern vertraut. Laotse hat schon vor 2.500 Jahren gesagt, dass nur dem vertraut wird, der auch anderen vertraut. Leider hat die Politik in Deutschland eher den Misstrauensweg gewählt, was dazu beigetragen hat, Verschwörungstheorien den Weg zu bereiten. Denn wenn die Bürger die staatlichen Maßnahmen rational nicht nachvollziehen können, suchen sie eben nach alternativen Erklärungen und dann entstehen leicht Verschwörungsmythen.

Leiter des Kompetenzfelds Verhaltensökonomik und Wirtschaftsethik am Institut der deutschen Wirtschaft, Foto: IW Medien Die Menschen misstrauen ja nicht nur dem Staat, sondern teils auch der Wissenschaft. In den USA ist die Impfkampagne gegen Corona ins Stocken geraten, weil Bürger an den Impfstoffen zweifeln. Wie kann die Bundesregierung dafür sorgen, dass so etwas in Deutschland nicht passiert?

Erst mal muss man auch als Wissenschaftler zugeben, dass man nicht alles weiß. Ohnehin gibt es „DIE“ Wissenschaft nicht – Virologen sagen das eine, Epidemiologen das andere, Psychologen halten die sozialen Folgen der Pandemie für gravierender als die gesundheitlichen Schäden, und die Intensivmediziner fürchten die Überlastung des Gesundheitssystems, auch wenn dies dann gar nicht eintritt. Zur Ehrlichkeit in der Wissenschaft gehört deshalb, die Begrenztheit des Wissens zuzugeben und zugleich verständlich aufzuklären.

Bei den Impfungen muss von Anfang an auf mögliche Nebenwirkungen hingewiesen werden und diese sind dann zielgruppenspezifisch mit dem jeweiligen Nutzen abzuwägen. Die University of Cambridge hat zum Beispiel für den Impfstoff von AstraZeneca eine schöne Übersicht nach Risiko- und Altersgruppen erstellt. Demnach ist für die über 30-Jährigen das Risiko schwerer Nebenwirkungen durch die Impfung um ein Vielfaches geringer als das Risiko, schwer an Covid-19 zu erkranken.

Das klingt doch nach einer klaren Richtschnur.

Ja, aber man muss den Menschen auf Basis solcher Daten eben auch ein konsistentes Bild vermitteln. Das vielleicht größte Problem ist derzeit, dass die Ständige Impfkommission einige Impfstoffe zuerst nur für unter 60-Jährige, dann wieder nur für über 60-Jährige empfohlen hat, wobei sich unter 60-Jährige aber nach individueller Abwägung trotzdem mit diesen Stoffen impfen lassen dürfen. Das hat die fatale Folge, dass diese Menschen bei einem Impfschaden kein Geld vom Staat bekämen.

Eine solche Verantwortungsdelegation halte ich für nicht akzeptabel, weil sich die Menschen ja nicht nur impfen lassen, um sich selbst zu schützen, sondern auch der Gesellschaft zuliebe – Stichwort Herdenimmunität. Und wenn das das Ziel ist, muss die Gesellschaft eben auch dann für Impfschäden aufkommen, wenn sich ein unter 60-Jähriger mit AstraZeneca oder Johnson & Johnson impfen lässt. Das würde auch die Glaubwürdigkeit der Impfstrategie erhöhen.

Gibt es eigentlich eine spezifische Erklärung für die derzeitige Impfskepsis? Schließlich sind Impfungen doch eine einzigartige medizinische Erfolgsstory.

Die Verhaltensökonomie hat dafür die Erklärung des „Omission Bias“. Das heißt, ich will lieber nicht in die Natur eingreifen und möglicherweise das Gleichgewicht stören. Hinzu kommt das Problem des sogenannten „Identifiable Victim Bias“: Wir betrachten den Einzelfall eines tragischen Impfschadens deutlich mehr als die vielen Millionen vermiedenen Corona-Infektionen. Auch dass der allererste Impfstoff aus einem Embryo entwickelt wurde, hat den Mythos entstehen lassen, dass für jede Impfung ein Embryo sterben müsste. Ein anderer Glaube ist, dass die Impfstoffentwickler die Kontrolle über meinen Körper erlangen – etwa, wie zuletzt häufig behauptet, durch eine Chip-Implantation. Der Glaube an solche Verschwörungsmythen ist übrigens häufig bei besonders gläubigen Menschen festzustellen – das ist wenig überraschend, schließlich hat Religion auch etwas Irrationales.

Wenn jemand aus dem privaten Umfeld an Verschwörungsmythen glaubt, sollte man diesem Menschen erst mal zuhören und verstehen, welche Sorge hinter dem Glauben an den Mythos steckt.

Was kann der Einzelne denn nun tun, ohne gleich die Beziehung zu zerstören, wenn Angehörige, Verwandte, Partner oder Kinder an Verschwörungsmythen glauben?

Auch in meinem Bekanntenkreis gibt es Menschen, die solchen Verschwörungsmythen durchaus etwas abgewinnen konnten. Das Wichtigste ist erst mal, diesen Menschen zuzuhören und zu verstehen, welches Bedürfnis, welche Sorge hinter dem Glauben an den Mythos steckt. Ganz wichtig ist es – auch wenn es einem selbst schwerfällt –, die Standpunkte des anderen nicht einfach als Humbug abzutun. Auch rationale Gegenargumente, so naheliegend sie sein mögen, helfen da erst einmal nicht.

Vielmehr ist wichtig, sich Zeit für die betreffende Person zu nehmen, empathisch zu sein und zu schauen, ob es nicht einen anderen Weg gibt, ihr das Gefühl der Kontrolle und Sicherheit zurückzugeben. Das gilt zumindest dann, wenn die Person noch auf der Suche nach Erklärungen ist und noch nicht endgültig zum „Sektenmitglied“ der Querdenker-Bewegung geworden ist.

Schauen wir noch ein wenig weiter in die Zukunft. Sie zitieren eine Studie, wonach nur noch 25 Prozent der Bundesbürger dem Corona-Management der Bundesregierung vertrauen. Könnte dieser Vertrauensverlust dauerhaft den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft gefährden?

Zum Glück vergessen die Menschen in der Regel schnell – und das gilt hoffentlich auch für den zum Teil dilettantischen Umgang des Staates mit der Pandemie, sei es in Sachen digitale Kontaktnachverfolgung oder bezüglich der Impfstoffbereitstellung und -verteilung. Wenn jetzt alles gut läuft, haben wir das alle in zwei, drei Jahren vielleicht vergessen.

Es kann aber auch zu einem Teufelskreis und einer dauerhaft gespaltenen Gesellschaft kommen – so wie in den USA. Denn verlorenes Vertrauen ist immer nur sehr schwer zurückzugewinnen. Und im schlimmsten Fall reagiert der Staat auf die nächste große Herausforderung, den Klimawandel, auch eher mit Klimanotstandsgesetzen, statt mit den Bürgern auf Augenhöhe nach Problemlösungen zu suchen.

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