Interview Lesezeit 6 Min.

„Ich finde es gut, dass so vorsichtig vorgegangen wird“

Die Bundesregierung hat Mitte April erste Schritte einer Exit-Strategie aus dem Lockdown beschlossen. Vielfach seien allerdings die Bedingungen, unter denen einzelne Lockerungen möglich sind, noch nicht formuliert, mahnt Christiane Woopen, Professorin für Ethik und Theorie der Medizin an der Uni Köln, und wie IW-Direktor Michael Hüther Mitglied des Expertenrats Corona der NRW-Landesregierung.

Kernaussagen in Kürze:
  • Medizinethikerin Christiane Woopen findet das Tempo, mit dem die Bundesregierung den Shutdown lockert, genau richtig. Die Rate der schweren Erkrankungen müsse so kontrolliert werden, dass keine Überlastung des Gesundheitssystems erfolgt.
  • Was ihr fehlt, sind Konzepte, unter welchen Bedingungen der nächste Lockerungsschritt gegangen werden kann.
  • Außerdem rät Woopen dazu, die Krise zu nutzen, um soziale Ungleichheiten abzubauen und ein nachhaltigeres Wirtschaftssystem zu etablieren.
Zur detaillierten Fassung

Alle sprechen von der Rückkehr zur Normalität, der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Armin Laschet hat sein Exit-Strategiepapier überschrieben mit einem „Weg in eine verantwortungsvolle Normalität“. Ist aus epidemiologischer Sicht derzeit nicht jeder Exit-Schritt das Gegenteil, nämlich unverantwortlich?

Auf jeden Fall muss jeder Schritt der Lockerung sehr gut begründet und unter dem Aspekt abgeklopft werden, ob er verantwortlich durchgeführt werden kann. Deswegen auch der Titel unseres Strategiepapiers.

Für mich stehen dabei vier Fragen im Vordergrund. Erstens: Wie hoch ist das Risiko zusätzlicher Ansteckungen? Wenn man jetzt beispielsweise alle Fußballstadien öffnen würde, ergeben sich andere Ansteckungsrisiken, als wenn der Einzelhandel unter strikten Vorsichtsmaßnahmen wieder öffnet.

Die zweite Frage ist: Wie hoch ist das Risiko schwerer Erkrankungen? Hier liegt das Augenmerk auf der Dichte der Personen mit einem besonders hohen Risiko, wie man sie etwa in Pflegeheimen oder in Heimen mit mehrfach schwerbehinderten Menschen vorfindet.

Die dritte Frage dreht sich darum, wie relevant der jeweilige Bereich ist, der geöffnet werden soll. Das können einzelne Wirtschaftsbereiche sein, die für die Wirtschaftsleistung Deutschlands eine besonders große Bedeutung haben, oder Einrichtungen mit zentraler gesellschaftlicher Funktion wie Schulen und Kindertagesstätten.

Und viertens muss geklärt sein, wie gut sich Schutzmaßnahmen umsetzen lassen. In Kindertagesstätten etwa ist es sehr schwer, Abstands- und Hygieneregeln einzuhalten, denn diese lassen sich Zweijährigen einfach noch nicht gut vermitteln. Gleichwohl ist dies auch abzuwägen gegen die vielfältigen Probleme, die durch eine allzu lange Schließung von Kitas entstehen.

Die Politik hat ein riesiges Hilfsprogramm für die Wirtschaft aufgelegt. Wenn wir irgendwann Aufbauprogramme konzipieren, kann man die Chance nutzen, von vornherein darauf zu achten, dass Nachhaltigkeitsaspekte dabei berücksichtigt werden.

Das alles sind sehr komplizierte Abwägungen. Tatsächlich muss meiner Ansicht nach die Grenze für Lockerungen des Shutdowns sein, dass die Rate der schweren Erkrankungen so kontrolliert wird, dass keine Überlastung des Gesundheitssystems erfolgt und wir die Erfolge, die wir in den vergangenen Wochen errungen haben, nicht riskieren.

Christiane Woopen ist Professorin für Ethik und Theorie der Medizin an der Uni Köln, Foto: Reiner Zensen Andererseits können wir den jetzigen Zustand des Shutdowns nicht einfrieren. Wir müssen auch an all jene Menschen denken, die jetzt durch die aktuellen Maßnahmen der Pandemie-Bekämpfung in Bedrängnis geraten und für die Hilfen noch nicht ausreichend zur Verfügung stehen.

An welche Personengruppen denken Sie in diesem Zusammenhang zum Beispiel?

Menschen in Pflegeheimen oder in Heimen für behinderte Menschen sind derzeit Belastungen ausgesetzt, die weder ausreichend gehört noch abgefedert werden. Abhilfe schaffen könnten beispielsweise Begegnungsräume für Menschen, die jetzt in den Einrichtungen in die Isolation geraten. In diesen Räumen könnten sie unter geschützten Bedingungen ihre Angehörigen treffen, wenn auch möglicherweise getrennt durch eine durchsichtige Wand. Dann könnten sie sich wenigstens sehen und austauschen.

Manche halten die ersten vorsichtigen Lockerungen, die die Bundesregierung Mitte April angekündigt hat, für richtig, andere kritisieren sie als zu zaghaft. Wie beurteilen Sie die Maßnahmen?

Ich finde es gut, dass so vorsichtig vorgegangen wird. Es wäre irritierend, wenn es jetzt allzu forsch ginge und wir dann merkten: Die Infektionszahlen steigen zu stark, wir müssen zurückrudern. So können Unternehmen nicht planen und die Bürger wären maximal verunsichert.

Was mir allerdings fehlt, ist eine Taskforce auf der Ebene der Bundesländer – koordiniert auf der Bundesebene –, die alle medizinischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Risiken in den Blick nimmt und zusammen mit den Verbänden und den Behörden vor Ort Konzepte entwickelt, unter welchen Bedingungen der nächste Lockerungsschritt gegangen werden kann.

Für die Schulen wird das jetzt von der Kultusministerkonferenz in Angriff genommen. Sie müssen überlegen, wie die Schüler zur Schule kommen, wie die räumlichen Kapazitäten sind, wie viele Lehrer tatsächlich zur Verfügung stehen, wie alle Schüler in Schichten unterrichtet werden können usw. Das sind detaillierte konzeptionelle Fragen, auf die mit denen, die sich vor Ort auskennen, gemeinsam Antworten gefunden werden müssen. Das kostet Zeit und viel gedankliche Kraft, aber ich glaube, es ist erforderlich, damit die Infektionszahlen nicht wieder steigen.

Ist der NRW-Expertenrat, dem Sie angehören, denn solch eine Taskforce?

Nein, der Expertenrat ist ein zwölfköpfiges Gremium unterschiedlicher Fachrichtungen, das Herrn Laschet berät und sich bislang viermal getroffen hat.

Eine Taskforce würde aus mehr Personen und mehr Disziplinen bestehen, hätte operative Unterstützung und würde ein Netzwerk aufbauen, um die relevanten Zahlen und Erfahrungen zusammenzutragen und Abwägungen zu treffen, wie beispielsweise bei der derzeit umstrittenen Öffnung des Einzelhandels. Wer sagt etwa, dass Geschäfte mit mehr als 800 Quadratmeter Verkaufsfläche an bestimmten Orten womöglich nicht besser dafür gerüstet sein könnten – auch vom Publikumsstrom her –, Abstands- und Hygieneregeln einzuhalten, als kleine Boutiquen in engen Straßen, bei denen es sich etwa eher anbieten könnte, von Tag zu Tag abwechselnd zu öffnen?

Sie haben in den vergangenen Wochen immer wieder angemahnt, dass Bedingungen definiert werden müssten, unter denen Öffnungen stattfinden können. Sind diese Bedingungen aus Ihrer Sicht mittlerweile ausreichend formuliert?

Wir verfügen momentan noch über keine ausreichend differenzierten epidemiologischen Modelle, und es gibt auch keine ausreichend differenzierten, risikoadaptierten Kriterien und Regeln für einzelne gesellschaftliche und wirtschaftliche Bereiche.

Sie plädieren auch dafür, die Corona-Krise zu nutzen, um Dinge neu zu gestalten: um soziale Ungleichheiten zu reduzieren und um eine nachhaltige Wirtschaft zu etablieren. Wann ist Ihrer Meinung nach der richtige Zeitpunkt, diese Aspekte in den Exit-Debatten zu berücksichtigen?

Jetzt.

Ist eine solche Veränderung in den Diskussionen bereits zu beobachten?

Die Politik hat bereits ein riesiges Hilfsprogramm für die Wirtschaft aufgelegt, das mit unterschiedlichsten Maßnahmen versucht, die Härten der Corona-Krise für die Menschen und die Unternehmen abzufedern. Wenn wir aber irgendwann in die Phase kommen, in der es um Aufbauprogramme geht, kann man nun die Chance nutzen, von vornherein darauf zu achten, dass Nachhaltigkeitsaspekte dabei berücksichtigt werden. Man könnte klare Anreize setzen für sozial angemessene Wertschöpfungsketten und ökologisch nachhaltige Produktionsprozesse.

Manche mögen es für verfrüht oder gar romantisierend halten, über die Chance der Krise nachzudenken, aber ich halte es für wichtig, die jetzige Situation zu nutzen. Im Normalbetrieb etwas zu ändern, wenn alles läuft, ist ungleich schwieriger, als wenn alles so runtergefahren ist, dass man gleichsam auf das existenzielle Niveau zurückgeworfen wird und überlegen kann: Wie bauen wir das jetzt neu auf? Wir stehen vor der Möglichkeit, die Reset-Taste zu drücken.

Ich betone, dass es mir nicht darum geht, die Wirtschaft zu kritisieren. Aber wir leiden aktuell etwa bei Masken und Medikamenten unter den Folgen der Verlagerung von Arbeitsplätzen und Produktionsstätten. Das kann in der wirtschaftlichen Logik nachvollziehbar sein und die Steigerung des Bruttoinlandsprodukts ist ein relevanter Maßstab, aber warum verwenden wir nicht auch einen gemeinwohlorientierten Maßstab? Der würde messen, welchen Beitrag ein Unternehmen oder eine Branche für das Gemeinwohl leistet, um soziale Ungleichheit abzubauen, Arbeitsplätze menschenfreundlich zu gestalten oder die Lebensqualität zu erhöhen. Das sind wichtige Kriterien, denn die Wirtschaft ist für den Menschen und nicht um ihrer selbst willen da.

Wie schätzen Sie die Chancen für solch einen Wandel ein?

In der Politik hat das bisher leider noch niemand zu seiner ausdrücklichen Agenda gemacht. Das ist verständlich, denn im Moment konzentriert sich alles darauf, die derzeitige Situation zu bewältigen. Nichtsdestotrotz ist es wichtig, solche Debatten zu führen. Mit ihnen beeinflussen wir, wie unsere Zukunft aussehen soll und welche Gesellschaft wir sein wollen.

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