Tarifpolitik Lesezeit 3 Min.

Höherer Mindestlohn staucht die Tarifstrukturen

Die von der Politik beschlossene Anhebung des Mindestlohns auf 12 Euro im Oktober 2022 hat in einigen Niedriglohnbranchen den Abstand zwischen den unteren und mittleren Entgeltgruppen deutlich kleiner werden lassen. Nach dem diesjährigen Anpassungsbeschluss haben die Tarifparteien künftig aber wieder mehr Gestaltungsspielraum, um dieser Stauchung entgegenzuwirken.

Kernaussagen in Kürze:
  • Die Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns auf 12 Euro hat zu erheblichen Verschiebungen in der Tariflohnstruktur geführt.
  • In der Landwirtschaft Nordrhein-Westfalens sowie im brandenburgischen Gastgewerbe beispielsweise verringerte sich der Abstand zwischen der untersten und der mittleren Entgeltgruppe gegenüber 2015 um nahezu 20 Prozent.
  • Die Kostenbelastungen der Unternehmen ließen zudem meist nicht so starke Lohnzuwächse zu, dass die früheren Abstände zwischen unteren und oberen Entgeltgruppen wiederhergestellt werden konnten.
Zur detaillierten Fassung

Seitdem der gesetzliche Mindestlohn im Jahr 2015 eingeführt wurde, entscheidet in der Regel die paritätisch aus Arbeitnehmer- und Arbeitgebervertretern zusammengesetzte Mindestlohnkommission darüber, in welchem Maße die Lohnuntergrenze angehoben wird. Die Kommission orientiert sich dabei an der Tariflohnentwicklung, sodass der Mindestlohn für die Tarifparteien eine halbwegs planbare Größe ist.

In vielen Niedriglohnbranchen der Tarifregionen Nordrhein-Westfalen und Berlin-Brandenburg hat die Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns auf 12 Euro den Abstand zwischen den unteren und der mittleren Entgeltgruppe erheblich schrumpfen lassen.

Der Beschluss der Bundesregierung vom Frühjahr 2022, den Mindestlohn ab Oktober 2022 auf einen Schlag von 10,45 Euro auf 12 Euro und damit um fast 15 Prozent zu erhöhen, hat allerdings zu erheblichen Verschiebungen in der Tariflohnstruktur geführt. So überholte der gestiegene Mindestlohn die untersten Tariflöhne teils deutlich. Eine exemplarische Analyse typischer Niedriglohnbranchen in zwei Tarifregionen zeigt die Folgen:

Nordrhein-Westfalen. In vielen der untersuchten Branchen ist der Abstand zwischen der untersten tariflichen Entgeltgruppe und dem mittleren Entgelt infolge des politisch verordneten 12-Euro-Mindestlohns stark geschrumpft. Ein eindrückliches Beispiel liefert der Agrarsektor (Grafik):

Die in der Landwirtschaft Beschäftigten der untersten Tariflohngruppe – Mitarbeiter ohne Berufsausbildung – verdienten Anfang 2015 gut 60 Prozent des mittleren Entgelts, Anfang 2022 waren es rund 72 Prozent. Innerhalb von nur zwölf Monaten stieg der Wert dann auf 80 Prozent.

So viel Prozent des mittleren Entgelts wurden in der Tarifregion NRW am 1. Januar 2023 in der untersten/obersten Entgeltgruppe gezahlt Download: Grafik (JPG) herunterladen Grafik (EPS) herunterladen Tabelle (XLSX) herunterladen

Im Friseurhandwerk stiegen die Löhne der untersten Entgeltgruppe von 2015 bis 2023 von gut 78 Prozent auf mehr als 90 Prozent des mittleren Entgelts, allein im vergangenen Jahr verringerte sich der Abstand um 8 Prozentpunkte.

Im Bäckerhandwerk vollzog sich die Annäherung der untersten an die mittlere Entgeltgruppe von nahezu 9 Prozentpunkten sogar fast vollständig von Anfang 2022 bis Anfang 2023.

In einigen Branchen führten die Reaktionen der Tarifpartner auf den jüngsten Mindestlohnbeschluss auch am oberen Rand der Lohnstruktur zu einer spürbaren Stauchung. Besonders ausgeprägt ist das im Gastgewerbe zu sehen:

Bis 2022 lagen die Löhne in der obersten Entgeltgruppe des Gastgewerbes, also bei den Führungskräften mit gesamtbetrieblicher Verantwortung, gut 70 Prozent über dem mittleren Entgeltniveau – zum Jahresbeginn 2023 betrug der Abstand nur noch etwas mehr als 50 Prozent.

Kaum verändert hat sich das Lohngefüge bis zuletzt nur im Einzelhandel, weil dort die untersten Tariflöhne – jene für Angestellte ohne kaufmännische Ausbildung im ersten Tätigkeitsjahr – im gesamten betrachteten Zeitraum ausreichend über dem gesetzlichen Mindestlohn lagen.

Berlin und Brandenburg. Auch in dieser Tarifregion haben die Mindestlohnerhöhungen der vergangenen Jahre und vor allem der Sprung auf 12 Euro das Tarifgefüge beeinflusst, wenngleich die Stauchungseffekte vergleichsweise gering ausfielen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Tariflohnstruktur in Berlin und Brandenburg von vornherein etwas komprimierter war als in Nordrhein-Westfalen.

Am stärksten wurden die unteren Tariflöhne gemessen am mittleren Entgelt in der brandenburgischen Gastronomie angehoben (Grafik):

Von gut 73 Prozent des mittleren Entgeltniveaus im Jahr 2015 stiegen die Löhne für angelernte Beschäftigte im Gastgewerbe Brandenburgs bis Anfang 2023 auf 92 Prozent.

So viel Prozent des mittleren Entgelts wurden in der Tarifregion Berlin-Brandenburg am 1. Januar 2023 in der untersten/obersten Entgeltgruppe gezahlt Download: Grafik (JPG) herunterladen Grafik (EPS) herunterladen Tabelle (XLSX) herunterladen

Dieser Sprung ist allerdings auch darauf zurückzuführen, dass sich die Personalsituation in den brandenburgischen Gastronomiebetrieben nicht nur infolge der Coronapandemie verschlechtert hatte, sondern auch, weil das nahe gelegene Berlin viele potenzielle Mitarbeiter wie Köche und Servicekräfte anzog. Die ab 2021 vereinbarten Entgeltsteigerungen sollten die Arbeitsplätze im Gastgewerbe Brandenburgs attraktiver machen.

Auswirkungen des Fachkräftemangels

Auch über dieses Beispiel hinaus hat der Fachkräftemangel dazu geführt, dass die Tarifparteien in den jüngsten Tarifrunden teils hohe Lohnsteigerungen vereinbart haben, die allerdings von der zuletzt hohen Inflationsrate relativiert werden. Die Kostenbelastungen der Unternehmen – durch die Inflation im Allgemeinen und die gestiegenen Energiepreise im Besonderen – ließen zudem meist nicht so starke Lohnzuwächse zu, dass die früheren Abstände zwischen unteren und oberen Entgeltgruppen wiederhergestellt werden konnten.

Für 2024 und 2025 hat die Mindestlohnkommission im üblichen Verfahren Anpassungen der Lohnuntergrenze auf 12,41 Euro und 12,82 Euro beschlossen. Diese moderaten Steigerungen verschaffen den Sozialpartnern wieder mehr Gestaltungsspielraum, um die Stauchung der Tarifstrukturen schrittweise zu korrigieren.

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