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Die Gefahr der Lohn-Preis-Spirale

Bei einer Inflationsrate von mehr als 7 Prozent klingt es nachvollziehbar, dass Arbeitnehmer in Deutschland mehr Geld fordern. Doch das könnte eine gefährliche Lohn-Preis-Spirale in Gang setzen. Ohnehin übersieht die Forderung, dass Arbeitgeber von den hohen Preisen ebenfalls betroffen sind. Der jüngste Tarifkompromiss in der Chemieindustrie sowie weitere kleinere Tarifabschlüsse beweisen nun aber viel Augenmaß.

Kernaussagen in Kürze:
  • Überzogene Lohnforderungen könnten eine gefährliche Lohn-Preis-Spirale in Gang setzen: Orientieren sich die Forderungen an der Inflationsrate, müssen Firmen unter Umständen ihre gestiegenen Kosten an die Verbraucher weitergeben und die Preise steigen weiter.
  • In den vergangenen 50 Jahren lag die Differenz aus Tariflohn- und Produktivitätsentwicklung in Deutschland nur viermal deutlich über der Inflationsrate.
  • Ein Positivbeispiel, wie Tarifverhandlungen in Zeiten erhöhter Inflation funktionieren können, liefert die Chemieindustrie mit der Vereinbarung von Neuverhandlungen im Herbst und einer einmaligen Sonderzahlung.
Zur detaillierten Fassung

Hohe Inflation gleich höhere Löhne – die Gleichung klingt aus Sicht vieler wahrscheinlich schlüssig. Doch sie geht nicht auf, denn die meisten Preissteigerungen treffen im Moment Arbeitnehmer und Arbeitgeber gleichermaßen. Manche Unternehmen sind – Stichwort Energie und Rohstoffe – sogar stärker betroffen als ihre Mitarbeiter. Beide Tarifparteien sitzen damit im selben Inflations-Boot.

Wie eine Lohn-Preis-Spirale entsteht

Nichtsdestotrotz gibt es Signale vonseiten der Gewerkschaften, dass sie bei anstehenden Tarifverhandlungen auch die hohe Teuerungsrate in den Blick nehmen wollen. Das hat jene Mahner auf den Plan gerufen, die für diesen Fall eine Lohn-Preis-Spirale befürchten. Um diese Angst zu verstehen, muss man sich detaillierter damit beschäftigen, wie solch eine Spirale entstehen kann:

Zahlen Firmen ihren Mitarbeitern mehr Geld, haben die Unternehmen erst einmal höhere Kosten für die Produktion ihrer Waren oder Dienstleistungen als zuvor. Gleiches gilt, wenn Vorprodukte – zum Beispiel Rohstoffe – teurer werden.

Es gibt zwei Optionen, wie die Firmen mit solchen Preissteigerungen umgehen können:

Kosten senken. Ist es den Unternehmen möglich, ihre Produktivität zu steigern, können sie ihre Produkte weiterhin zum gleichen Preis anbieten – obwohl das Personal oder die eingesetzten Materialien teurer sind als früher.

Kosten überwälzen. Wenn Firmen hingegen nicht produktiver werden können, müssen sie die höheren Kosten auf den Produktpreis aufschlagen. Dann werden Waren und Dienstleistungen teurer.

Letztlich entscheidet also die Produktivität darüber, ob die Produktpreise steigen oder nicht. Der volkswirtschaftlichen Logik folgend sollten sich die Lohnforderungen von Gewerkschaften deshalb an der Produktivität orientieren und nicht daran, wie sich die Preise entwickeln. Handeln Gewerkschaften anders, kann das böse enden:

Orientieren sich die Arbeitnehmervertreter bei ihren Lohnforderungen an der Inflationsrate und nicht daran, wie sich die Produktivität entwickelt, müssen Firmen ihre gestiegenen Kosten an die Verbraucher weitergeben und die Preise steigen.

Diese höheren Preise führen wiederum dazu, dass sich die Reallöhne verringern – das Einkommen ist weniger wert –, weshalb die Gewerkschaften in der nächsten Tarifrunde unter Umständen erneut mehr Lohn fordern.

Zwar gibt es einen gewissen Spielraum, innerhalb dessen seitens der Verbraucher die Bereitschaft besteht, mehr für ein Produkt oder eine Dienstleistung zu zahlen. Doch dieser Spielraum ist den Firmen im Vorfeld unbekannt und wird er ausgereizt, sind weitere Lohnforderungen die Folge – dann ist die Spirale in Gang gesetzt.

Zentralbank kann mit Zinserhöhung reagieren

Solch eine Situation riefe die Zentralbank auf den Plan. Die kann eine Lohn-Preis-Spirale stoppen, indem sie eine restriktive Geldpolitik betreibt. Das heißt: Sie erhöht die Zinsen, wodurch es lukrativer wird, zu sparen, statt Geld auszugeben. Dadurch sinkt die Nachfrage nach Waren und Dienstleistungen und Produkte werden bestenfalls billiger. Allerdings wirken sich höhere Zinsen durch die Zentralbank negativ auf Investitionen und das Wirtschaftswachstum aus.

Mit all diesen Zusammenhängen zu Löhnen und Preisen im Hinterkopf lohnt sich ein Blick auf die deutsche Historie (Grafik):

In den vergangenen 50 Jahren lag die Differenz aus Tariflohn- und Produktivitätsentwicklung in Deutschland nur viermal deutlich über der Inflationsrate.

Verbraucherpreise - Veränderung gegenüber Vorjahr in Prozent | Um so viele Prozentpunkte über- oder unterschritten die Tariflohnveränderungen das Produktivitätswachstum Download: Grafik (JPG) herunterladen Grafik (EPS) herunterladen Tabelle (XLSX) herunterladen

In den ersten drei Fällen schritt die Bundesbank beziehungsweise die Europäische Zentralbank (EZB) ein und erhöhte die Zinsen. Durch die Rezessionen 1974 und 1992 bekamen die Währungshüter zudem Schützenhilfe, um die Lohn-Preis-Spiralen zu durchbrechen. Im Jahr 2009 – dem vierten Zeitpunkt – waren höhere Zinsen seitens der EZB nicht nötig, denn da lag der Grund dafür, dass die Steigerung der Löhne die der Produktivität deutlich überschritt, in einer vorübergehend rückläufigen Produktion.

Würde die Geldpolitik eine etwaige Lohn-Preis-Spirale in Europa mit höheren Zinsen bekämpfen, träfe das aber auch die öffentlichen Finanzen der Mitgliedsstaaten: Die Pandemie hat deren Staatshaushalte in jüngster Vergangenheit stark belastet, ebenso die Auswirkungen der Russland-Sanktionen. Merklich steigende Zinsen würden also dazu führen, dass die Länder höhere Schuldzinsen aufbringen und von vornherein mehr für zusätzliche Schulden zahlen müssten.

Überzogene Lohnforderungen könnten eine gefährliche Lohn-Preis-Spirale in Gang setzen. Ein Positivbeispiel, wie Tarifverhandlungen in Zeiten erhöhter Inflation funktionieren können, liefert die Chemieindustrie.

Die Tarifparteien können durch maßvolle Tarifabschlüsse also dazu beitragen, dass die Zentralbank die Zinsen nicht spürbar anheben muss. Das entlastet den Zinsdienst und vermeidet nicht nur eine Lohn-Preis-Spirale, sondern auch eine neue Schuldenspirale.

Tarifkompromiss in der Chemieindustrie

Hoffnung darauf, dass eine neuerliche Lohn-Preis-Spirale gar nicht erst in Gang kommt, macht jedenfalls der erste große Tarifabschluss seit Beginn des Ukraine-Kriegs – und zwar in der deutschen Chemieindustrie. Dort haben sich die Gewerkschaft IG BCE und der Arbeitgeberverband BAVC darauf verständigt, dass erst im Herbst über den neuen Tarif für rund 580.000 Mitarbeiter verhandelt wird – in der Hoffnung, dass sich die geopolitische Lage inklusive der enormen Energie- und Rohstoffpreise bis dahin wieder entspannt hat. Gleichzeitig gibt es für die Beschäftigten eine einmalige Sonderzahlung von 1.400 Euro, um die Teuerung auszugleichen. Im Durchschnitt aller Beschäftigten entspricht dies 5,3 Prozent des Jahresgehalts – ein üppiger Inflationsausgleich, der die Firmen aber nicht dauerhaft belastet.

Der Chemie-Kompromiss zeigt, dass die Tarifpartner tragfähige Lösungen in Krisenzeiten finden. Auch in einigen kleineren Branchen wie der Druckindustrie sowie bei Banken und Versicherungen gab es Abschlüsse, die der Gesamtsituation Rechnung tragen. Ohnehin zeigt die sogenannte Lohndrift, dass die Tarifparteien schon seit rund zehn Jahren die besonderen Umstände auf dem Arbeitsmarkt, vor allem den Fachkräftemangel, berücksichtigen. Die Lohndrift steht für die Differenz zwischen der Entwicklung der Bruttoverdienste und der Tarifverdienste (Grafik):

Von 2010 bis 2020 sind die Tarifverdienste um 27 Prozent gestiegen, die Bruttoverdienste um 35 Prozent. Damit war die Lohndrift – anders als noch in den 2000er Jahren – positiv.

Deutschland, 2010 = 100 Download: Grafik (JPG) herunterladen Grafik (EPS) herunterladen Tabelle (XLSX) herunterladen

Die Tarifverträge definieren also wieder stärker Mindestbedingungen. Doch Unternehmen zahlen Mitarbeitern mit gesuchten Qualifikationen durchaus mehr, wie die Lohndrift offenbart.

Möglicher Arbeitsplatzverlust bei überzogenen Forderungen

Im Herbst – wenn die Chemieindustrie erneut verhandeln will – stehen parallel Tarifverhandlungen für die vier Millionen Beschäftigten der Metall- und Elektro-Industrie an, wenig später für drei Millionen Arbeitnehmer im öffentlichen Dienst. Es bleibt abzuwarten, ob auch dann mit Augenmaß verhandelt wird oder die Gewerkschaften mehr fordern, als in Anbetracht der Produktivitätsentwicklung geboten wäre.

Wirtschaftsexperten setzen darauf, dass die Vernunft siegt – auch aus folgendem Grund: Einem Reallohnverlust steht gegebenenfalls ein Arbeitsplatzverlust gegenüber, sollte es zu überzogenen Forderungen kommen. Zudem sind die Tariflöhne seit 2012 durchweg stärker gestiegen als die Verbraucherpreise – im Jahr 2020 betrug die Inflationsrate gerade einmal 0,5 Prozent, die Tariflöhne legten aber um 2,2 Prozent zu.

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