Lohnerhöhung Lesezeit 4 Min.

Mindestlohn: Eingreifen der Politik gefährdet Tarifautonomie

Bisher wird der Mindestlohn in Deutschland von der Mindestlohnkommission festgesetzt, die sich bei ihren Entscheidungen an der Entwicklung der Tariflöhne orientiert. Nun will die Politik diesen Mechanismus aussetzen und den Mindestlohn eigenständig erhöhen – mit gravierenden Folgen.

Kernaussagen in Kürze:
  • Bislang wird der Mindestlohn in Deutschland von der Mindestlohnkommission festgelegt, die im Wesentlichen paritätisch auf Vorschlag der Arbeitgeberverbände und der Gewerkschaften besetzt wird.
  • Voraussichtlich wird jedoch die künftige Ampelkoalition eigenständig beschließen, den Mindestlohn auf 12 Euro anzuheben.
  • Ein solcher Schritt würde den Stellenwert der Tarifautomie senken. Zudem würde die Lohnstruktur in Deutschland stark gestaucht.
Zur detaillierten Fassung

8,50 Euro – auf diesem Niveau wurde am 1. Januar 2015 erstmals ein Mindestlohn in Deutschland festgesetzt. Zeitgleich wurde auch die Mindestlohnkommission etabliert, die im Wesentlichen paritätisch auf Vorschlag der Arbeitgeberverbände und der Gewerkschaften besetzt wird.

Aufgabe der Mindestlohnkommission ist es, den Mindestlohn alle zwei Jahre anzupassen und dabei zu prüfen, welche Mindestlohnhöhe zu einem angemessenen Mindestschutz der Arbeitnehmer beiträgt, faire Wettbewerbsbedingungen ermöglicht und die Beschäftigung nicht gefährdet. Dabei soll sich die Kommission ausdrücklich an der Tariflohnentwicklung orientieren.

Diesen Vorgaben folgend hat die Mindestlohnkommission bisher dreimal beschlossen, den Mindestlohn anzuheben, wobei zuletzt mehrere Stufen vorgesehen wurden:

Dem Beschluss vom Juni 2020 zufolge, der unter dem Eindruck der Corona-Pandemie erfolgte, stieg der Mindestlohn im Januar 2021 von 9,35 auf 9,50 Euro und dann im Juli auf 9,60 Euro. Ab Januar 2022 soll er 9,82 Euro betragen, ab Juli 2022 dann 10,45 Euro.

Die Besetzung der Mindestlohnkommission und die Orientierung an der Entwicklung der Tariflöhne sind ein klarer Hinweis darauf, dass mit dem Mindestlohngesetz die Tarifautonomie möglichst wenig angetastet werden sollte. Die Frage ist, inwieweit dennoch tariflich festgesetzte Entgelte durch den Mindestlohn überholt wurden – denn das wäre ein erheblicher Eingriff in die Tarifautonomie. Eine Antwort hierauf gibt ein Gutachten, das das Institut der deutschen Wirtschaft gemeinsam mit dem Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut in der Hans-Böckler-Stiftung erstellt hat. Das Ergebnis:

Zum Einführungszeitpunkt des Mindestlohns zum Jahresbeginn 2015 lagen gut 6 Prozent aller tariflichen Entgeltgruppen unter dem gesetzlichen Niveau, Anfang 2019 waren es nur noch 4,4 Prozent.

Dabei gilt es zu berücksichtigen, dass einer Übergangsregelung zufolge Tarifentgelte unterhalb des Mindestlohnniveaus noch bis Ende 2017 zulässig waren. Insgesamt zeigen das Gutachten und auch andere Studien, dass – über die gesamte deutsche Tariflandschaft betrachtet – nur recht wenige Tarifverträge vom Mindestlohn verdrängt wurden.

Mindestlohn ist ein Problem für Niedriglohnbranchen

In Niedriglohnbranchen wie zum Beispiel dem Bäcker- und dem Friseurhandwerk oder der Gastronomie hat der Mindestlohn das Tarifgeschehen allerdings maßgeblich geprägt – die Löhne für die unteren Entgeltgruppen wurden im Zuge der Mindestlohnanpassungen teils erheblich nach oben gedrückt. Ein Beispiel (Grafik):

In der Landwirtschaft stieg im Tarifgebiet Nordrhein der Tariflohn für die Beschäftigten ohne Berufsausbildung von 7,30 Euro im Jahr 2015 auf 9,50 Euro Anfang 2021.

Entgelte in ausgewählten Niedriglohnbranchen sowie Entwicklung des gesetzlichen Mindestlohns in Euro je Stunde Download: Grafik (JPG) herunterladen Grafik (EPS) herunterladen Tabelle (XLSX) herunterladen

Besonders stark war die Lohnanpassung Ende 2017, als die Übergangsregelung in Sachen Mindestlohnunterschreitung auslief.

Die Tarifverhandlungen in den Niedriglohnbranchen sind zudem durch die Einführung des Mindestlohns schwieriger geworden – nicht zuletzt, weil die Bezahlung der ungelernten Beschäftigten näher an jene der Fachkräfte herangerückt ist. Weil die Unternehmen den Ungelernten deutliche Lohnaufschläge gewähren mussten, fehlte ihnen oft der finanzielle Spielraum, um auch die Entgelte der gelernten Kräfte so anzuheben, dass der Lohnabstand gewahrt blieb.

Bei einem Mindestlohn von 12 Euro würde die gesamte Tariflohnstruktur in Deutschland stark gestaucht, eine differenzierte Entlohnung von un- oder angelernten Beschäftigten auf der einen Seite und Fachkräften auf der anderen Seite wäre dann für viele Unternehmen kaum noch machbar.

Bei einem Mindestlohn von 12 Euro je Stunde – den einige Politiker und die Gewerkschaften seit Längerem fordern und der von den möglichen Ampelkoalitionären aller Voraussicht nach beschlossen werden wird – könnten die Folgen noch deutlich schwerwiegender sein.

So lagen Anfang 2019 immerhin etwa 20 Prozent aller Lohngruppen in Tarifverträgen unter der Schwelle von 12 Euro. Selbst gewerkschaftsnahe Forscher sind daher besorgt, dass sich manche Arbeitgeber bei einem entsprechend hohen Mindestlohn vollständig aus der Tarifbindung verabschieden würden – etwa, weil sie die Löhne von Beschäftigten höherer Tarifgruppen dann nicht mehr stemmen können.

Außerdem würde die gesamte Tariflohnstruktur in Deutschland bei einem Mindestlohn von 12 Euro stark gestaucht, eine differenzierte Entlohnung von un- oder angelernten Beschäftigten auf der einen Seite und Fachkräften auf der anderen Seite wäre dann für viele Unternehmen kaum noch machbar.

Unter Druck kämen vor allem kleinere Betriebe – die in Deutschland einen großen Teil der Unternehmenslandschaft ausmachen. Zudem würden sich strukturelle Probleme in Ostdeutschland verschärfen. Beispielsweise hat schon der bisherige Mindestlohn viele Bäckereibetriebe in ländlichen Gebieten Ostdeutschlands zum Aufgeben gezwungen.

Living-Wage-Konzept zieht hohe Kosten nach sich

Noch schwieriger würde die Lage, wenn die künftige Bundesregierung den Mindestlohn zu einem sogenannten Living Wage ausbaut, der einen bestimmten Lebensstandard gewährleisten soll. Das würde den Stellenwert der Tarifautonomie massiv senken. Zudem müsste die Politik die neue Mindestlohnstrategie durch eine umfangreiche und teure Unterstützung der Unternehmen begleiten, um unerwünschte Arbeitsplatzverluste zu vermeiden. Dies zeigen die Erfahrungen aus dem Ausland eindrücklich.

Angesichts dessen wäre die Politik gut beraten, den bewährten Anpassungsmechanismus beim Mindestlohn beizubehalten und der Mindestlohnkommission nicht das Heft aus der Hand zu nehmen.

Das könnte Sie auch interessieren

Meistgelesene