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Firmenkapital fließt aus Deutschland ab

Im vergangenen Jahr ist per saldo so viel Unternehmenskapital aus Deutschland abgeflossen wie nie zuvor. Auch im internationalen Vergleich der Direktinvestitionsströme steht die Bundesrepublik am schlechtesten da. Die Gründe für den Kapitalverlust sind vielfältig.

Kernaussagen in Kürze:
  • Im vergangenen Jahr überstiegen die Direktinvestitionsabflüsse aus Deutschland die entsprechenden Zuflüsse um fast 132 Milliarden Dollar – ein Rekordwert.
  • Damit verzeichnete die Bundesrepublik den höchsten Nettoabfluss an Unternehmenskapital aller 46 vom IW verglichenen Volkswirtschaften.
  • Zu den Gründen für den Kapitalabfluss zählen neben den gestiegenen Energiepreisen und der als unsicher eingeschätzten Energieversorgung auch die Probleme der Automobilindustrie sowie der Fachkräftemangel.
Zur detaillierten Fassung

Dass die Coronapandemie und der Krieg in der Ukraine durch unterbrochene Lieferketten und steigende (Energie-)Preise viele Volkswirtschaften enorm belastet haben, ist keine neue Erkenntnis. In Deutschland sind in jüngster Zeit die sorgenvollen Stimmen aus vielen und vor allem den energieintensiven Industriezweigen noch einmal lauter geworden. Immer öfter ist von einer drohenden Deindustrialisierung Deutschlands die Rede.

Diese Befürchtungen dürften nicht zuletzt daher rühren, dass das Verarbeitende Gewerbe hierzulande einen überdurchschnittlich hohen Stellenwert hat. Das wird beim Blick auf den Industrie-Dienstleistungsverbund deutlich, der außer dem Verarbeitenden Gewerbe selbst auch den Vorleistungssaldo der ihm zuarbeitenden Dienstleistungsbranchen einbezieht:

Die Wertschöpfung des Industrie-Dienstleistungsverbunds machte in Deutschland im Jahr 2019 – neuere Zahlen liegen nicht vor – fast 30 Prozent des Bruttoinlandsprodukts aus.

In fast allen anderen großen Volkswirtschaften war der Anteil deutlich niedriger – in den USA beispielsweise betrug er etwa 12 Prozent, im Vereinigten Königreich sogar nur ungefähr 10 Prozent.

Im vergangenen Jahr überstiegen die Direktinvestitionsabflüsse aus Deutschland die entsprechenden Zuflüsse um den Rekordbetrag von fast 132 Milliarden Dollar.

Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob und inwieweit ein Bedeutungsverlust der Industrie bislang nur ein Schreckgespenst oder schon Realität ist. Ein gutes Indiz ist die Entwicklung der Direktinvestitionen. Denn hinter dem Zu- und Abfluss von Unternehmenskapital stecken strategische und damit langfristige Entscheidungen. Ein negativer Saldo der Direktinvestitionsströme deutet darauf hin, dass Unternehmen Probleme am betreffenden Standort sehen und deshalb Kapital abziehen.

Die Daten für Deutschland sind insofern äußerst bedenklich (Grafik):

Im vergangenen Jahr überstiegen die Direktinvestitionsabflüsse aus Deutschland die entsprechenden Zuflüsse um fast 132 Milliarden Dollar – ein Rekordwert.

Zu- und Abflüsse an Direktinvestitionen nach und aus Deutschland in Millionen Dollar Download: Grafik (JPG) herunterladen Grafik (EPS) herunterladen Tabelle (XLSX) herunterladen

Schon in den Jahren zuvor – mit Ausnahme des besonders stark von der Coronapandemie geprägten Jahres 2020 – ging viel Firmenkapital verloren. Der Saldo entwickelte sich nur deshalb bis 2018 positiv, weil Unternehmen aus dem Ausland ihr Investitionsengagement in Deutschland steigerten. Seither zeigt jedoch der Trend bei den Kapitalzuflüssen abwärts.

Die jüngsten Zahlen bedeuten für die Bundesrepublik im internationalen Vergleich einen unrühmlichen Spitzenplatz (Grafik):

Von den 46 Volkswirtschaften, die das Institut der deutschen Wirtschaft verglichen hat, verzeichnete im Jahr 2022 kein Land einen höheren Nettoabfluss an Direktinvestitionen als Deutschland.

Länder mit den höchsten Nettoab- beziehungsweise -zuflüssen an Direktinvestitionen im Jahr 2022 in Millionen Dollar Download: Grafik (JPG) herunterladen Grafik (EPS) herunterladen Tabelle (XLSX) herunterladen

Die durch den Ukraine-Krieg ausgelösten Energiepreissteigerungen und die Unsicherheit über die künftige Energieversorgung dürften für die schlechte deutsche Direktinvestitionsbilanz sicherlich eine Rolle spielen. Unterfüttert wird diese These dadurch, dass die meisten mit deutschem Firmenkapital finanzierten Direktinvestitionsprojekte 2022 in Frankreich realisiert wurden – in einem Land also, das an der Atomkraft festhält und wo deshalb die Energieversorgung als gesichert gilt.

Dennoch dürften noch weitere Gründe für den Kapitalabfluss aus Deutschland relevant sein. Das liegt schon deshalb nahe, weil ein solcher Abfluss – wie erwähnt – bereits in den vorangegangenen Jahren zu verzeichnen war. Im Einzelnen:

Lage der Automobilindustrie. Die Autobranche ist in Deutschland eine Schlüsselindustrie, die seit Jahrzehnten viele Arbeitsplätze sichert. Weil die Wirtschaft jedoch klimaneutral werden soll und die Politik in diesem Zuge zum Beispiel 2018 die Abgaswerte verschärft hat, ist die Zukunft des Verbrennungsmotors – auf den sich die hiesigen Kfz-Hersteller spezialisiert hatten – ungewiss. Investoren stellen sich daher die Frage, wie wettbewerbsfähig die deutsche Autobranche künftig sein wird.

Programm „NextGeneration-EU“. Das im Juni 2021 gestartete Programm soll den Mitgliedsstaaten helfen, die Folgen der Pandemie zu überwinden sowie grüner und digitaler zu werden. Dazu gewährt die EU Zuschüsse und Kredite, die Investitionen anstoßen sollen. Deutschland gehört allerdings nicht zu den vornehmlich geförderten Ländern, sodass es sein könnte, dass Investoren Kapital abziehen und in Förderprojekte in anderen EU-Staaten umlenken.

Demografie. Neben Deutschland verzeichnete zuletzt auch Japan einen erheblichen Nettoabfluss von Unternehmenskapital – 2022 waren es gut 129 Milliarden Dollar. Und ähnlich wie die Bundesrepublik hat auch das ostasiatische Land mit einer stark alternden Bevölkerung zu kämpfen. Beide Volkswirtschaften leiden daher unter einem massiven Fachkräftemangel – so ist dieser hierzulande laut einer Umfrage des Bundesverbands der Deutschen Industrie für drei von vier industriellen Mittelständlern aktuell die größte Herausforderung. Da fehlende Fachkräfte das Wachstum beeinträchtigen und Innovationen ausbremsen, ist es plausibel, dass Investoren ihr Engagement an Standorten wie Deutschland oder Japan zunehmend infrage stellen.

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