Einkommensentwicklung in Deutschland
Vor Ausbruch der Corona-Pandemie sind die verfügbaren Haushaltseinkommen in Deutschland über alle Gruppen hinweg stark gestiegen – die Ungleichheit hingegen nicht. Auf diesen Pfad des sogenannten inklusiven Einkommenswachstums gilt es nach Corona zurückzufinden, meint IW-Verteilungsforscher Maximilian Stockhausen.
- In den vergangenen Jahren gab es über alle Einkommensgruppen hinweg echte Wohlstandsgewinne.
- Dass sich das Mehr an Wohlstand nicht in den gängigen Kennzahlen widerspiegelt, liegt an der relativen Messung der Einkommensungleichheit – und relative Maße ändern sich nicht, wenn es allen besser geht.
- Die Soziale Marktwirtschaft hat dazu beigetragen, dass Deutschland Corona-Pandemie und Flüchtlingsmigration vergleichsweise gut und sozialverträglich gemeistert hat.
In Wahlkampfzeiten wurde oft behauptet, die Ungleichheit in Deutschland nehme stetig zu. Von einer sich immer weiter öffnenden Schere zwischen Arm und Reich war die Rede. Doch „die Ungleichheit“ gibt es gar nicht, geschweige denn, dass die Behauptung bezüglich der Einkommens- und Vermögensungleichheit zuträfe.
In den vergangenen Jahren hat die Ungleichheit der Einkommen in Deutschland nicht zugenommen, vielmehr hat der Sozialstaat seine integrative Leistung trotz teils widriger Bedingungen unter Beweis gestellt.
Richtig ist: Die Einkommens- und Vermögensungleichheit liegt heute über dem Niveau der 1990er Jahre. Sie liegt aber auch erheblich unter dem Niveau zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Seit Ende der 2000er Jahre hat zudem weder die Ungleichheit der Vermögens- noch die der Einkommensverteilung zugenommen – das gilt sowohl für die Einkommen vor Steuern, Abgaben und Transferleistungen (Markteinkommen) als auch die Nettoeinkommen.
Höhere Reallöhne, echte Wohlstandsgewinne
Nach 2015 hat nicht nur die Einkommensungleichheit eher leicht abgenommen, sondern haben auch die Nettoeinkommen deutlich zugelegt. So sind die bedarfsgewichteten Haushaltsnettoeinkommen des unteren Einkommenszehntels im Durchschnitt um 7 Prozent und die des oberen Zehntels um 5 Prozent gestiegen. In der Einkommensmitte sieht das Bild ähnlich aus. Die Inflation ist bereits herausgerechnet, es handelt sich also um echte Wohlstandsgewinne. Die gute Beschäftigungssituation, starke Reallohnsteigerungen in Verbindung mit der Einführung des gesetzlichen Mindestlohns, höhere Renten- und Transferzahlungen haben allesamt zu diesem inklusiven Einkommenswachstum beigetragen.
Wer nun einwirft, dass doch die Einkommensungleichheit in Deutschland in einer wirtschaftlich so glänzenden Zeit hätte deutlich stärker sinken müssen, dem seien mehrere Dinge entgegnet:
Ungleichheit wird in aller Regel relativ gemessen. Das bedeutet, dass die Veränderungen von Einkommensanteilen verschiedener Gruppen verglichen werden. Verändern sich die Einkommen aller Gruppen um den gleichen Prozentsatz, so nehmen zwar absolute Einkommensunterschiede zu, aber die Einkommensanteile bleiben unverändert. In diesem Fall verändert sich ein relatives Ungleichheitsmaß wie der Gini-Koeffizient nicht.
Relative Ungleichheitsmaße sind schwierig für Gerechtigkeitsdiskussionen
Hinter der Verwendung relativer Ungleichheitsmaße steht der wohlfahrtstheoretische Grundgedanke, dass ein zusätzlicher Euro für eine ärmere Person einen größeren Nutzen hat als für eine reichere. Diese Logik rechtfertigt auch die Umverteilung der Einkommen von oben nach unten – zum Beispiel über Steuern und Abgaben. Dabei ein Optimum zu finden, ist jedoch ein schwieriges Unterfangen, weil die unterschiedlichen Vorstellungen hinsichtlich einer „gerechten Verteilung“ natürlich von individuellen Wertvorstellungen abhängen.
Den Wert des Gini-Koeffizienten und damit die Ungleichheit der Einkommen stärker zu reduzieren, würde technisch gelingen, wenn beispielsweise die Einkommen im unteren Bereich um ein Vielfaches stärker stiegen als die höheren Einkommen. Das setzte aber vor allem höhere Transfers voraus. Denn in den unteren Einkommensgruppen ist der Anteil von Arbeitslosengeldbeziehern oder ALG-II-Empfängern, geringfügig Beschäftigten und Rentnern relativ groß. Höhere Transfers erfordern jedoch zwangsläufig eine Gegenfinanzierung. Doch je stärker dazu zum Beispiel die Erwerbseinkommen belastet werden, desto geringer ist der Arbeitsanreiz.
Die Krux an der Sache: Man kann den Kuchen zwar gleichmäßiger verteilen. Je größer aber der Kuchen wird, desto größer wird auch der Spielraum für die Verteilung. Mit Blick auf die im internationalen Vergleich bereits sehr hohe Steuer- und Abgabenlast in Deutschland wäre die Forderung nach deutlich höheren Transfers deshalb mit dem Risiko verbunden, die wirtschaftliche Basis des Sozialstaats zu schmälern. Besser wäre es, die Voraussetzungen dafür zu stärken, dass mehr Menschen eine sozialversicherungspflichtige Vollzeitbeschäftigung aufnehmen können.
Arbeit hilft am besten
Auch der sechste Armuts- und Reichtumsbericht hat dargelegt, dass Beschäftigung – insbesondere in Vollzeit – das beste Mittel zum Schutz vor Einkommensarmut ist. Verteilungsanalysen zeigen zudem, dass die Ungleichheit der verfügbaren Haushaltseinkommen durch die positive Beschäftigungsentwicklung zwischen 2005/06 und 2016 gesunken wäre, hätte es nicht gegenläufige Effekte gegeben – beispielsweise durch die Integration von meist mittellosen Geflüchteten in Gesellschaft und Arbeitsmarkt.
Wer also schimpft, die breite Masse der Menschen hätte am Wohlstandszuwachs der vergangenen Jahre keinen Anteil gehabt, weil die relative Ungleichheit nicht deutlicher gesunken ist, der irrt und verkennt nicht zuletzt die integrative Leistung des Sozialstaats in der Sozialen Marktwirtschaft.
Ob Flüchtlingsmigration oder Corona-Pandemie: Die Balance von Markt und Staat hat nicht nur geholfen, enorme Herausforderungen vergleichsweise gut und sozialverträglich zu meistern, sondern sollte auch zuversichtlich stimmen, dass Deutschland die Herausforderungen der anstehenden digitalen und ökologischen Transformation erfolgreich bewältigen kann.