Sozialstaat dämpft Krisenverluste
Die Corona-Pandemie und die staatlich verordneten Lockdown-Maßnahmen zur Virus-Eindämmung treffen Wirtschaft und Gesellschaft hart. Wie sich das auf die Einkommensverteilung in Deutschland auswirkt, untersucht eine neue IW-Studie – und liefert teils überraschende Ergebnisse.
- Auch wenn es einige anders empfinden: Die verfügbaren Haushaltseinkommen haben sich in der Corona-Krise dank üppiger Sozialtransfers kaum reduziert.
- Die beiden niedrigsten Einkommenszehntel haben sogar minimal mehr Geld zur Verfügung als vor der Krise, was aber auch an all den politischen Maßnahmen liegt, die bereits zum Jahreswechsel 2019/2020 in Kraft traten.
- Die Ungleichheit bei den Markteinkommen der Haushalte ist durch Corona zwar gestiegen, jene der verfügbaren Einkommen von 2018 bis 2020 allerdings gesunken.
In guten Zeiten für schlechte vorsorgen: Die Devise ist uralt – und Deutschland hat sich in den vergangenen Jahren daran gehalten. Das Ende der guten Jahre kündigte sich zwar schon vor der Pandemie an, mit Corona schlugen sie dann aber abrupt in magere Zeiten um: Erst zum Jahresende 2021 wird laut IW-Konjunkturprognose wieder das Vorkrisenniveau erreicht.
Deshalb ist es gut, dass die Bundesregierung die vergangenen Jahre – auch dank der viel diskutierten schwarzen Null – genutzt hat, um die Staatsschulden zu reduzieren. Die derzeit historisch niedrigen Zinsen auf Staatsanleihen tragen ebenfalls dazu bei, dass die Politik heute bei ihren Maßnahmen gegen die Krise finanziell aus dem Vollen schöpfen kann. Dass sie dabei teilweise über das Ziel hinausschießt, ist angesichts der völlig neuen Situation zu verschmerzen – so es denn nicht zum Dauerzustand wird.
Der Sozialstaat federt die finanziellen Verluste der Bürger durch die Corona-Pandemie massiv ab.
Momentan geht es vor allem darum zu verhindern, dass Menschen ihren Arbeitsplatz verlieren, in Armut abrutschen und Existenzängste um sich greifen. Denn schon während des ersten Lockdowns im März und April wurde von verschiedenen Seiten befürchtet, dass die Krise die Ungleichheit in Deutschland deutlich negativ beeinflussen könnte.
Der Frage, inwiefern das bislang wirklich geschehen ist, ist das IW in einer Studie nachgegangen. Dafür hat das Institut zum einen im August mehr als 1.200 Personen befragt, zum anderen wurden die Ergebnisse mit Haushaltsbefragungsdaten des Sozio-oekonomischen Panels kombiniert. Mithilfe des Mikrosimulationsmodells IW-STATS wurden Steuern, Abgaben und Transferleistungen berechnet und die Verteilung der verfügbaren Einkommen unter Einbezug temporärer Corona-Hilfen ermittelt.
Pandemie trifft Markteinkommen deutlich stärker als verfügbare Einkommen
Um bei der Analyse der verschiedenen Daten nicht Äpfel mit Birnen zu vergleichen, wurde eine Bedarfsgewichtung der Haushaltseinkommen vorgenommen. Sie berücksichtigt, dass ein Mehrpersonenhaushalt Kostenvorteile gegenüber einem Singlehaushalt hat, weil einiges – zum Beispiel der Kühlschrank und der Fernseher – gemeinsam genutzt werden kann und weil Kinder normalerweise weniger Geld benötigen als Erwachsene.
Neben der Frage nach dem subjektiven Erleben der Krise geht es in der IW-Studie hauptsächlich um die objektiven Zahlen. Und die belegen vor allem eines:
Die Corona-Pandemie hat die Markteinkommen in Deutschland deutlich stärker getroffen als die verfügbaren Einkommen – also jene, die sowohl die Abgaben als auch sämtliche staatlichen Transfers berücksichtigen.
Das heißt: Der Regierung ist es gelungen, die finanziellen Verluste der Bürger durch eine ganze Reihe von Sozialmaßnahmen massiv abzufedern. Dazu gehören neben automatischen Stabilisatoren wie der Arbeitslosenversicherung ergänzende Hilfen, die in der Krise neu eingeführt oder erweitert wurden.
Neben der bewährten Maßnahme des Kurzarbeitergelds hat die Politik einen Steuerfreibetrag für Alleinerziehende eingeführt, einen vereinfachten Zugang zur Grundsicherung ermöglicht und im Sommer einmalig einen Kinderbonus ausgezahlt. Außer den Geldtöpfen zur Bekämpfung der Krise wirken jene Reformen der Sozialgesetzgebung unterstützend, die bereits zum Jahreswechsel von 2019 auf 2020 in Kraft traten: Der Empfängerkreis für Wohngeld wurde vergrößert, beim Kinderzuschlag gibt es mehr Leistungen.
Subjektiv fühlen sich viele durch die Krise schlechtergestellt
Im subjektiven Empfinden der vom IW befragten Haushalte spielt das staatliche Bemühen aber allem Anschein nach eine untergeordnete Rolle:
Etwa ein Viertel der Befragten sieht sich in einer schlechteren finanziellen Situation als vor der Krise. Nur 5 Prozent geht es subjektiv beurteilt finanziell besser.
Allerdings zeigt der detailliertere Blick, dass es bei der Beurteilung etwaiger Verteilungswirkungen wichtig ist, nicht nur auf das individuelle Krisenschicksal zu schauen, sondern den Haushaltskontext zu betrachten. Denn wenngleich beim Erwerbseinkommen verstärkt Geringverdiener Einbußen haben, verschieben sich die Verluste bei Betrachtung von Haushaltseinkommen bereits eher in den mittleren Einkommensbereich.
Hinzu kommt, dass der Sozialstaat zugunsten der Einkommensschwachen umverteilt (Grafik):
Während die Markteinkommen der Haushalte in der Krise je Person und Monat um durchschnittlich 107 Euro gesunken sind, hat sich das verfügbare Einkommen nur um 12 Euro reduziert.
Von den Antikrisenmaßnahmen der Politik und den Änderungen in der Sozialgesetzgebung profitieren vor allem die unteren Einkommen:
Die Personen im ersten und zweiten Einkommenszehntel hatten in der Krise sogar nominal etwas mehr Geld als im Vorjahr.
Betrachtet man statt der Einkommensgruppen die Alterskohorten, kann ebenfalls Entwarnung gegeben werden. Denn anders als von einigen befürchtet, sind jüngere Menschen nicht deutlich stärker von der Pandemie betroffen als Ältere, wenn es um die verfügbaren Einkommen geht:
Besonders groß sind die Einbußen beim verfügbaren Haushaltseinkommen der 40- bis 49-Jährigen mit minus 2,4 Prozent und bei den 50- bis 59-Jährigen mit einem Minus von rund 1,8 Prozent.
Dank der Rentenerhöhung gehen die Ruheständler tendenziell sogar mit einem Plus durch das Krisenjahr 2020. Mit der wahrscheinlichen Nullrunde für westdeutsche Rentner im kommenden Jahr zeigen sich für sie die Auswirkungen der Krise mit Verzögerung.
Der Kinderbonus und höhere Steuerfreibeträge halfen dabei, dass Alleinerziehende zumindest in finanzieller Hinsicht ebenfalls nicht außergewöhnlich stark von der Pandemie getroffen wurden.
Was nun all diese Befunde mit Blick darauf bedeuten, ob die Krise die Ungleichheit in Deutschland erhöht hat, zeigt der Gini-Koeffizient. Er nimmt Werte von null bis eins an und je höher er liegt, desto ungleicher sind die Einkommen verteilt.
Ungleichheit der Markteinkommen hat in der Pandemie zugenommen
Die Analyse des Gini-Koeffizienten verdeutlicht, dass sich an der Verteilung der Markteinkommen von 2018 auf 2019 – also in der Zeit vor der Krise – wenig verändert hat. Erst durch die Krise ändert sich der Befund (Grafik):
Der Gini-Koeffizient der bedarfsgewichteten Markteinkommen ist von 0,511 im Jahr 2018 auf 0,525 im Jahr 2020 gestiegen. Die Markteinkommen sind durch die Krise also ungleicher verteilt als in den Jahren zuvor.
Ganz anders lautet das Ergebnis bei den verfügbaren Einkommen – also nach Abzug von Steuern und Sozialabgaben und inklusive der Sozialtransfers:
Mit einem Wert von 0,289 lag der Gini-Koeffizient für die verfügbaren Haushaltseinkommen im Jahr 2020 unter dem Wert von 2018, als er noch 0,293 betrug.
Ohne das Kurzarbeitergeld hätte er 2020 übrigens bei 0,291 gelegen – ein Beleg dafür, dass schon diese einzelne Maßnahme nachweislich die Einkommen stabilisiert hat.
Ungleichheit der verfügbaren Einkommen ist nicht gestiegen
Zwar sind diese Befunde allesamt statistisch betrachtet nicht signifikant, weil sich die 95-Prozent-Konfidenzintervalle der geschätzten Gini-Koeffizienten für die einzelnen Jahre überlagern. Diese Intervalle sind ein statistisches Maß für die Schätzunsicherheit. Entscheidender ist aber Folgendes: Aus den Befunden lässt sich umgekehrt eine hohe Wahrscheinlichkeit dafür ableiten, dass die Ungleichheit der verfügbaren Einkommen bislang nicht zugenommen hat.
Die Folgen des zweiten Lockdowns wird man freilich erst im kommenden Jahr im Detail auswerten können. In der Summe, so ist zu hoffen, sollte Deutschland aber schon bald die Krise hinter sich gelassen haben – vorausgesetzt, die Welt bekommt die Pandemie beispielsweise dank der verfügbaren Impfstoffe in den Griff.
Und wenn die Politik in den nächsten Monaten entschlossen und besonnen agiert, Arbeitsplätze sichern kann und gleichzeitig die Möglichkeiten des sozialstaatlichen Transfersystems von den Bedürftigen in Anspruch genommen werden, dürfte sich die Ungleichheit in den verfügbaren Einkommen auch künftig nicht wesentlich erhöhen.