Die wirtschaftlichen Hürden für einen EU-Beitritt der Ukraine sind hoch
Kurz nach dem Überfall Russlands auf ihr Land hat die Regierung der Ukraine einen Antrag auf den Beitritt zur Europäischen Union eingereicht. Ein Selbstläufer wird das Beitrittsverfahren jedoch nicht – das legt zumindest ein Vergleich wirtschaftlicher Indikatoren zwischen der Ukraine und den zuletzt in die EU aufgenommenen Ländern nahe.
- Die Ukraine möchte möglichst bald der EU beitreten – allerdings knüpft die EU eine Mitgliedschaft an zahlreiche Kriterien.
- Wirtschaftlich gesehen steht die Ukraine in vielen Bereichen deutlich schlechter da als jene Länder, die der EU zuletzt beigetreten sind.
- Vor diesem Hintergrund ist eine verstärkte wirtschaftliche und politische Kooperation zwischen der Ukraine und der EU einem schnellen Beitritt vorzuziehen.
Am 28. Februar 2022 – nur vier Tage nach Kriegsbeginn – gab die Ukraine ihr Beitrittsgesuch in Brüssel ab. Das Land hat damit auch ein politisches Signal an Russland gesendet und hofft nun, dass die EU ihrerseits die Aufnahme der Ukraine zügig vorantreibt.
Fakt ist allerdings, dass nicht alle 27 EU-Mitgliedsstaaten einen sofortigen Beitritt der Ukraine befürworten – zu den Skeptikern gehört neben den Niederlanden und Frankreich auch Deutschland. Das EU-Parlament hat sich ebenfalls eher zurückhaltend geäußert und auf das seit 2017 bestehende Assoziierungsabkommen verwiesen, auf dessen Basis man zunächst die Integration der Ukraine in den europäischen Binnenmarkt weiter vorantreiben solle.
EU fordert Rechtsstaatlichkeit und funktionsfähige Marktwirtschaft
Doch selbst dann, wenn alle Beteiligten das Ziel eines raschen EU-Beitritts der Ukraine unterschreiben würden: Ein solcher Schritt ist den EU-Statuten zufolge an drei Grundbedingungen geknüpft. Erstens müssen die Bewerber über stabile Institutionen sowie eine demokratische und rechtsstaatliche Ordnung verfügen, die Menschenrechte wahren und Minderheiten schützen. Zweite Voraussetzung ist eine funktionsfähige Marktwirtschaft und die Fähigkeit, dem Wettbewerbsdruck innerhalb des EU-Binnenmarktes standzuhalten. Drittens müssen sich die betreffenden Länder auf die EU-Ziele der politischen Union sowie der Wirtschafts- und Währungsunion verpflichten. Als weiteres Kriterium muss sichergestellt sein, dass die EU die nötige Aufnahmefähigkeit hat, also auch in der vergrößerten Union die „Stoßkraft der europäischen Integration“ erhalten bleibt.
Die hohen Hürden für einen EU-Beitritt dürften auch erklären, warum die EU seit fast zehn Jahren keine neuen Mitglieder aufgenommen hat, obwohl es eine Reihe von offiziellen Beitrittskandidaten gibt – Albanien, Montenegro, Nordmazedonien, Serbien sowie die Türkei.
Im Jahr 2020 betrug das kaufkraftbereinigte Bruttoinlandsprodukt (BIP) je Einwohner in der Ukraine gut 13.000 Dollar – in Bulgarien war das Pro-Kopf-BIP annähernd, in Kroatien sogar mehr als doppelt so hoch.
Die früheren Erweiterungsrunden haben in jedem Fall gezeigt, dass die im zweiten Kriterium angesprochene wirtschaftliche Leistungsfähigkeit potenzieller Beitrittsländer eine große Rolle spielt – auch deshalb, weil die EU viel Geld darauf verwendet, das Gefälle in Sachen Wohlstand und Wirtschaftskraft zwischen ihren Mitgliedsstaaten auszugleichen. Vor diesem Hintergrund liegt es nahe, ökonomische Kennziffern der Ukraine mit denen jener Länder zu vergleichen, die als bislang letzte in die EU aufgenommen wurden – Bulgarien, Rumänien (beide traten 2007 der EU bei) und Kroatien (Beitritt 2013). Einige Ergebnisse dieses Vergleichs:
Wirtschaftsleistung je Einwohner. Während die Wirtschaft in der Ukraine von 2000 bis 2007 noch auf einem ähnlichen Wachstumspfad war wie in Bulgarien und Kroatien, wurde der Abstand bezüglich des Wohlstandsniveaus danach immer größer (Grafik):
Im Jahr 2020 betrug das kaufkraftbereinigte Bruttoinlandsprodukt (BIP) je Einwohner in der Ukraine gut 13.000 Dollar – in Bulgarien war das Pro-Kopf-BIP annähernd, in Kroatien sogar mehr als doppelt so hoch.
Ein entscheidender Rückschlag für die Ukraine war die Annexion der Krim durch Russland sowie die Ausrufung der sogenannten Volksrepubliken im Osten des Landes im Jahr 2014. In deren Folge fiel ein erheblicher Teil der industriellen Wertschöpfung weg, Liefer- und Versorgungsketten wurden unterbrochen. Der aktuelle russische Angriffskrieg wird die Ukraine wirtschaftlich weiter zurückwerfen – Institutionen wie der Internationale Währungsfonds und die Weltbank prognostizieren für das Jahr 2022 einen Rückgang des ukrainischen BIP von 35 bis 45 Prozent.
Staatsverschuldung. Mit Blick auf die Teilnahme an der Wirtschafts- und Währungsunion ist die Verschuldung in Relation zum BIP ein wichtiger Indikator. Prinzipiell soll die Schuldenquote unterhalb der 60-Prozent-Marke liegen – wenngleich diese Latte von mehreren etablierten EU-Mitgliedern und Euroländern regelmäßig gerissen wird.
Die Ukraine stand diesbezüglich zuletzt recht gut da (Grafik):
Nachdem die Staatsverschuldung der Ukraine 2015 und 2016 fast 80 Prozent des BIP betrug, waren es im vergangenen Jahr nur noch gut 54 Prozent.
Damit lag der Wert beispielsweise deutlich unter dem Schuldenstand Kroatiens von 87 Prozent und noch klarer unter dem EU-Durchschnitt von gut 90 Prozent. Allerdings ist völlig offen, wie sich die Schuldenlage der Ukraine infolge des Kriegs entwickeln wird.
Arbeitsmarkt und Bildung. Wo die Wirtschaft nicht ausreichend wächst, entstehen häufig auch zu wenige Jobs. Die Arbeitslosenquote in der Ukraine lag 2020 mit 9,1 Prozent im Jahresdurchschnitt dann auch gut 2 Prozentpunkte über dem EU-Durchschnitt.
Dabei hat das Land viel Arbeitskräftepotenzial. Zwar ist der demografische Wandel auch in der Ukraine spürbar, doch die Bevölkerungsstruktur ist nach wie vor günstiger als in den Vergleichsländern (Grafik):
Der Anteil der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter betrug in der Ukraine 2020 gut 67 Prozent – in Bulgarien, Kroatien wie auch im EU-Durchschnitt lag er nur bei etwa 64 Prozent.
Zudem ist der Anteil der 30- bis 34-Jährigen, die eine abgeschlossene Hochschulausbildung haben, mit 57 Prozent außergewöhnlich hoch. In Rumänien haben lediglich gut 26 Prozent dieser Altersgruppe ein Studium absolviert, in der EU insgesamt sind es 41 Prozent. Allerdings ist der hohe Akademikeranteil in der Ukraine auch darauf zurückzuführen, dass es keine Alternative wie etwa eine duale Berufsausbildung nach deutschem Muster gibt.
Wirtschaftliche Rahmenbedingungen. Hier zeigen globale Rankings mehrere Schwachstellen der Ukraine auf. So belegte sie im Jahr 2020 nur Rang 64 des „Ease of doing business“-Indikators der Weltbank, der die Geschäftsfreundlichkeit und die Unternehmensregulierung eines Landes bewertet. Bulgarien, Rumänien und Kroatien lagen zwischen drei und 13 Plätzen weiter vorn. Zudem ist der Übergang von einer Plan- in eine Marktwirtschaft in der Ukraine weniger weit fortgeschritten als in den Vergleichsländern, wie der Transformationsindex der Bertelsmann Stiftung zeigt.
Nicht zuletzt hat die Ukraine in Sachen Korruptionsbekämpfung noch viel zu tun:
Im Korruptionswahrnehmungsindex von Transparency International lag die Ukraine im Jahr 2021 lediglich auf Platz 122 von 180 Ländern – Kroatien, Rumänien und Bulgarien schafften zumindest Ränge zwischen 63 und 78.
Immerhin hat sich die Ukraine seit 2012 um 22 Plätze verbessert. Und auch der Anteil der Schattenwirtschaft ist rückläufig – von etwa 38 bis 43 Prozent des BIP im Jahr 2014 sank er bis 2019 auf knapp 30 Prozent. Dennoch muss das Hohe Gericht für Antikorruption, das 2019 seine Arbeit aufnahm, vor allem die Verbindungen von Oligarchen zur Regierung in den Blick nehmen, um die Korruption wirksam bekämpfen zu können.
Mehr Kooperation statt Beitritt?
Unabhängig von der Problematik, ein sich im Krieg befindendes Land in die EU aufzunehmen, zeigt der Blick auf die wirtschaftliche Lage, dass die Ukraine auf absehbare Zeit große Schwierigkeiten haben dürfte, die Beitrittskriterien zu erfüllen. Das spricht gegen eine schnelle Aufnahme des Landes in die EU, allerdings nicht gegen eine starke wirtschaftliche und politische Kooperation zwischen den beiden Partnern.