Interview Lesezeit 6 Min.

„Derzeit geht die größte Gefahr vom Brexit aus“

Vor zehn Jahren stürzte die Insolvenz der Investmentbank Lehman Brothers die Welt in eine Finanzkrise und bescherte den Euroländern ein gigantisches Staatsschuldenproblem. Welche Reformen daraufhin angestoßen wurden und ob sie genügen, erklärt Markus Demary, Finanzmarktexperte des Instituts der deutschen Wirtschaft, im Interview mit iwd.de.

Kernaussagen in Kürze:
  • Aus Sicht von IW-Finanzmarktökonom Markus Demary hat die Eurozone die richtigen Lehren aus der Finanzkrise und der daraus resultierenden Staatsschuldenkrise gezogen.
  • Die Finanzmarktaufsicht wurde verbessert und zentralisiert. Für die Verluste von Banken in Schieflagen haften künftig zuerst Eigentümer und Gläubiger, für die Abwicklung im Insolvenzfall wird ein Fonds geschaffen, den die Banken bis 2023 mit 55 Milliarden Euro befüllen.
  • Das größte Risiko für die nächste globale Finanzkrise dürfte vom Brexit ausgehen: Wenn das Finanzzentrum London nicht mehr der EU-Aufsicht unterliegt, droht ein Deregulierungswettlauf mit den USA.
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Zum zehnten Jahrestags der Lehman-Pleite stellt sich vor allem eine Frage: Haben Finanzwelt und Politik die richtigen Konsequenzen aus der Finanzkrise gezogen?

Ich meine: ja. Die wichtigste Erkenntnis war, dass es nicht ausreicht, wenn global tätige Banken nur auf der nationalen Ebene beaufsichtigt werden. Zum einen können die nationalen Aufseher die Komplexität der globalen Geschäfte nicht erfassen. Zudem stehen sie häufig unter dem politischen Druck, den heimischen Finanzplatz zu fördern. Für eine globale Aufsicht hat es zwar nicht gereicht, aber immerhin für eine europäische. Das Europäische Finanzaufsichtssystem besteht aus mehreren Aufsichtsbehörden – einer für die Banken, einer für Versicherungen und einer für das Wertpapierwesen. Für den Euroraum ist die Europäische Zentralbank mit der direkten Aufsicht der Großbanken betraut worden.

Sind diese Aufsichtsbehörden schon tätig geworden oder wurde bisher nur Bürokratie aufgebaut?

Die EZB hat bereits im Jahr 2014 die 130 größten Banken des Euroraums auf Herz und Nieren geprüft. Rund 6000 Prüfer haben zwölf Monate lang rund 82 Prozent der Vermögenswerte der Banken auf deren Risiken hin untersucht. Notleidende Kredite und ähnliche Vermögenswerte wurden einheitlich definiert, so dass ein zusätzliches Volumen von 156 Milliarden Euro als ausfallgefährdet identifiziert wurde. Der anschließende Stresstest hat Kapitallücken von insgesamt 25 Milliarden Euro bei 25 Banken ergeben. Diese Kapitallücken mussten gefüllt werden. Zudem hat die EZB in den letzten Jahren recht viel Druck auf die Banken mit einem hohen Anteil an notleidenden Krediten ausgeübt. Zwar ist deren Bestand, vor allem bei den italienischen Banken, immer noch hoch. Doch es haben sich auch deutliche Fortschritte gezeigt.

Welches sind denn – neben der Neuordnung der Bankenaufsicht – die wichtigsten Reformen, um künftigen Finanzkrisen vorzubeugen?

Dass die Banken gemäß Basel III, den aktuellen Eigenkapitalvereinbarungen des Basler Ausschusses für Bankenaufsicht, jetzt eine stärkere Risikovorsorge zu treffen haben, ist schon einer der zentralen Punkte. Neu ist dabei auch die Unterscheidung in systemrelevante und weniger wichtige Banken. Die systemrelevanten Finanzinstitute müssen nämlich zur Kreditvergabe und zum Kauf von Wertpapieren generell über höhere risikoabhängige Eigenkapitalpuffer verfügen.

Für alle Banken wurde zudem eine Obergrenze der Gesamtverschuldung festgelegt. Die sogenannte Leverage Ratio gibt vor, wie viel Eigenkapital der nicht risikogewichteten Bilanzsumme mindestens gegenüber stehen muss. Derzeit sind es 3 Prozent.

Eine Konsequenz aus den Zahlungsschwierigkeiten der Geldhäuser ist auch die striktere Reglementierung ihres Liquiditätspuffers. Basel III verlangt, dass Banken so viele qualitativ hochwertige und schnell zu liquidierende Aktiva bereithalten müssen, dass sie im Fall einer Krise 30 Tage lang alle zu erwartenden Zahlungsabflüsse abdecken können.

Basel III soll die Banken selbst krisenfester machen, aber das Hauptproblem war doch wohl die allzu kreative Ausgestaltung von Wertpapieren, um Risiken quasi aus den Büchern verschwinden zu lassen.

Markus Demary ist Senior Economist für Geldpolitik und Finanzmarktökonomik im Institut der deutschen Wirtschaft; Foto: IW Medien/Florian Lang Auch für die Verbriefung von Risiken jeglicher Art sind auf europäischer Ebene strengere Vorschriften eingeführt worden. Die Emittenten müssen mehr Transparenz über den Inhalt von Wertpapieren schaffen und es gilt ein Selbstbehalt. Ein Großteil der Emission solcher Verbriefungen findet aber unter dem Dach von Schattenbanken statt – und bei denen bestehen noch Aufsichtslücken.

Schattenbanken?

Das sind alle bankenähnlichen Häuser, die nicht der Bankenregulierung unterliegen, zum Beispiel Investmentfonds, Hedgefonds und die von den Banken eigens für das Verbriefungsgeschäft gegründeten Zweckgesellschaften.

Und wenn doch etwas schiefgeht, die Risikovorsorge nicht ausgereicht hat und eine Bank oder Schattenbank in Zahlungsschwierigkeiten gerät, haben wir das nächste Lehman und die nächste Finanzkrise?

Die Idee ist ja, dass die bessere Aufsicht dazu führt, dass aus einem Lehman keine globale Finanzkrise wird, also zumindest die systemischen Risiken kleiner gehalten werden können. Im Einzelfall ist aber nicht völlig auszuschließen, dass eine Bank in Schieflage gerät.

Die Frage ist, wer dann haftet. Die Steuerzahler sollten es möglichst nicht wieder sein. Denn die verantwortlichen Banker haben keinen Anreiz, risikobewusst zu handeln, wenn sie von einem Bail-out ausgehen können, sprich davon, dass der Staat für den Schaden aufkommt.

Die Euroländer sind hier durch den Aufbau einer Bankenunion schon recht weit gekommen. Dazu gehören die Aufsicht der EZB über systemrelevante Kreditinstitute und der sogenannte Einheitliche Bankenabwicklungsmechanismus, der – basierend auf einheitlichen europäischen Regeln – in kriselnde Banken eingreifen kann. Eine Möglichkeit ist es zum Beispiel, die Kundeneinlagen und den Zahlungsverkehr auf eine Brückenbank zu übertragen und die verlustreichen Geschäfte in eine Bad Bank auszugliedern. Für die Vorfinanzierung der Abwicklung steht ein europäischer Fonds zur Verfügung, in den Banken einzahlen. Bis 2023 soll er mit 55 Milliarden Euro gefüllt sein.

Die Abwicklung von Banken in Schieflage ist in der Eurozone so weit wie möglich darauf ausgerichtet, ohne öffentliche Mittel auszukommen.

Bevor jedoch der Abwicklungsfonds einspringt, müssen Eigentümer und Gläubiger der betroffenen Bank nach einer genau vorgegebenen Haftungskaskade für Verluste von mindestens 8 Prozent der Bilanzsumme aufkommen: Zuerst werden Aktionäre und Anleiheinhaber zur Kasse gebeten, dann Großkunden mit Guthaben von mehr als 100.000 Euro. Die Abwicklung ist also so weit wie möglich darauf ausgerichtet, ohne öffentliche Mittel auszukommen.

Hat im vergangenen Jahr die Rettung der italienischen Bank Monte dei Paschi di Siena mit Steuergeldern nicht gezeigt, dass das alles im Ernstfall niemanden interessiert?

In Italien war ein Bail-in 2017 politisch nicht durchsetzbar, da den normalen Sparern Bankanleihen als risikolose Anlage verkauft wurden. Zudem hatten sie die Bankanleihen gekauft, als die Haftungskaskade noch nicht galt.

Der Fall zeigt aber, wie wichtig einheitliche europäische Regeln sind. Denn das Beispiel Italien macht sehr anschaulich, dass eine Beteiligung des privaten Sektors an den Verlusten nur dann gelingen kann, wenn es dabei um Investoren mit einem professionellen Risikomanagement geht, während die gewöhnlichen Sparer möglichst abgeschirmt werden. Die Sparer sollten sich zudem beim Erwerb von Bankanleihen darüber informieren, an welcher Stelle der Haftungskaskade sie stehen.

Halten Sie die Reformen denn zumindest theoretisch für ausreichend oder kommt bald die nächste Krise?

Man muss schon würdigen, dass es nicht nur in der EU, sondern auch auf internationaler Ebene eine systematische Reformagenda gibt und die G20 die Finanzmarktregulierung immer wieder thematisieren. Krisen werden trotzdem nie ganz zu verhindern sein. Wichtig ist, dass die Aufsichtsbehörden nun bessere Eingriffsmöglichkeiten haben, um eine Krise abzumildern, und dass die Steuerzahler jetzt besser vor den Kosten einer Finanzkrise geschützt sind.

Und wo lauert die nächste Krise?

Derzeit geht wohl die größte Gefahr vom Brexit aus. Das global bedeutendste Finanzzentrum London ist dann nicht mehr Teil der EU. Geschäfte in und mit London unterliegen dann nicht mehr den Regeln der EU und können auch nicht mehr von ihr beaufsichtigt werden. Ein Großteil der globalen Derivategeschäfte wird in London abgewickelt. Dazu zählen auch die Geschäfte in Euro.

Das ist auch deshalb gefährlich, weil die USA ihre Finanzmärkte bereits wieder dereguliert haben, so dass für London Wettbewerbsnachteile entstehen. Großbritannien könnte versucht sein, das Gleiche zu tun. In diesem Fall würden Wettbewerbsnachteile für die strenger regulierten europäischen Banken entstehen. Es ist nur zu hoffen, dass die EU Finanzstabilität weiterhin als wichtiges Ziel ansieht und ihre Standards beibehält.

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