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„Der Aufholprozess im Osten ist noch im Gang“

Ökonomisch haben die östlichen Bundesländer in den vergangenen drei Jahrzehnten gewaltig aufgeholt. Doch das westdeutsche Niveau haben sie auch 30 Jahre nach dem Mauerfall noch nicht erreicht, stellt Klaus-Heiner Röhl, Senior Economist im Institut der deutschen Wirtschaft, fest.

Kernaussagen in Kürze:
  • Die Folgen von 45 Jahren ökonomischer Teilung zwischen Ost- und Westdeutschland konnten innerhalb von 30 Jahren nicht gänzlich überwunden werden, sagt IW-Ökonom Klaus-Heiner Röhl.
  • So erreicht das Bruttoinlandsprodukt der ostdeutschen Bundesländer heute lediglich drei Viertel der westdeutschen Länder.
  • Ein beherrschendes Thema im Osten ist der Fachkräftemangel: 14 von 22 ostdeutschen Regionen haben ein Demografieproblem.
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Seit dem Fall der Mauer und der Öffnung der innerdeutschen Grenze sind inzwischen 30 Jahre vergangen – dieser Zeitraum ist bereits zwei Jahre länger als jener, in dem das 1.378 Kilometer lange Bollwerk und die 161 Kilometer lange Berliner Mauer standen. Die Folgen von 45 Jahren ökonomischer Teilung konnten innerhalb von drei Dekaden allerdings nicht vollständig überwunden werden: Mit einem Bruttoinlandsprodukt von knapp 70 Prozent des westdeutschen Werts liegen die fünf Flächenländer immer noch spürbar zurück; mit der boomenden Hauptstadt werden aber immerhin drei Viertel des Westniveaus erreicht. Und bei der Produktivität je Erwerbstätigen sind es inzwischen über 80 Prozent – was gleichzeitig zeigt, dass es im Osten noch immer weniger Arbeitsplätze gibt als in Westdeutschland.

Ein Lichtblick ist der starke Rückgang der Arbeitslosigkeit im Osten

Dabei haben sich die östlichen Bundesländer in der langen Aufschwungphase seit 2010 gar nicht schlecht entwickelt. Die Wirtschaft wuchs jährlich bis zu 3 Prozent, insgesamt lag die reale Wirtschaftsleistung 2018 um gut 16 Prozent höher als 2010 und übertraf mit knapp 29.700 Euro BIP je Einwohner das Wohlstandsniveau Italiens. Das kaufkraftbereinigte Netto-Durchschnittseinkommen liegt inzwischen dank Steuerprogression und niedrigerer Preise bei fast 94 Prozent des westdeutschen Werts.

Dass der Aufholprozess gegenüber Westdeutschland trotzdem schleppend verlief, ist auch auf die gute gesamtdeutsche Entwicklung zurückzuführen: In Westdeutschland wuchs die Wirtschaft im gleichen Zeitraum um 15 Prozent, sodass die leichte Konvergenz beim Bruttoinlandsprodukt je Einwohner weitgehend auf den deutlichen Bevölkerungszuwachs im Westen zurückzuführen ist. Ein Lichtblick ist der starke Rückgang der Arbeitslosigkeit im Osten, die mit nur 6,4 Prozent im August 2019 den westdeutschen Wert gerade noch um 1,6 Prozentpunkte übertraf.

Inzwischen gibt es eher eine Nord-Süd-Divergenz als eine zwischen Ost und West

Ein Blick auf die Bundesländer zeigt, dass es in Deutschland inzwischen eher eine Nord-Süd-Divergenz gibt als eine zwischen Ost und West: Ohne Bayern und Baden-Württemberg mit je circa 3 Prozent Arbeitslosen gibt es zwar noch deutliche Unterschiede zwischen Stadt und Land, aber keine mehr zwischen Ost und West. Dabei arbeiten die Ostdeutschen im Durchschnitt in kleineren Betrieben, was die weiter bestehenden Unterschiede in der Produktivität und damit auch beim Bruttoinlandsprodukt zumindest zum Teil erklärt.

Klaus-Heiner Röhl ist Senior Economist im Institut der deutschen Wirtschaft; Foto: IW Medien

Insbesondere in den fünf Flächenländern ist die Arbeitslosigkeit zuletzt schnell gesunken, was aber auch an der Demografie liegt: Statt Massenarbeitslosigkeit wird Fachkräftemangel zum beherrschenden Thema der kommenden Jahre. Und hier sind die Ost-Bundesländer schlecht aufgestellt – trotz des Endes der Abwanderung gen Westen. In der aktuellen IW-Studie zur Zukunft der Regionen (siehe: „Gefährdete Regionen in Ost wie West“) erweisen sich 14 von 22 ostdeutschen Raumordnungsregionen als demografisch gefährdet – darunter ganz Sachsen-Anhalt und alle an Polen angrenzenden Gebiete.

Aufgrund der Abwanderung und des Geburteneinbruchs nach 1990 fehlen nun junge Menschen – sowohl, um die vielen Neurentner am Arbeitsmarkt zu ersetzen, als auch als Eltern für die nächste Generation. Und ausländische Fachkräfte haben neben den wirtschaftsstarken Regionen Westdeutschlands und Berlin allenfalls noch ein paar wachsende Zentren wie Leipzig oder Jena als Ziel – die meisten ostdeutschen Regionen scheinen bislang für indische Programmierer, rumänische Ärzte oder portugiesische Stahlbauer eher unattraktiv zu sein.

Dass zuwanderungskritische politische Gruppierungen gerade dort Erfolg haben, wo die demografischen Probleme am gravierendsten sind, macht ein Umsteuern sicher nicht einfacher; zumal den ländlichen ostdeutschen Regionen nicht nur die Zuwanderer fehlen, sondern auch die eigene Jugend zum Teil noch immer abwandert – wenn auch nicht mehr nach München oder Hamburg, sondern eher nach Leipzig oder Rostock. Der Urbanisierungstrend erfasst zwar ganz Deutschland, trifft den Osten aber stärker, weil es hier relativ weniger städtische Zentren und mehr „flaches Land“ gibt als im Westen.

Damit der Aufholprozess trotz demografischer Probleme nicht vollends zum Erliegen kommt, muss auch die Politik gegensteuern: Statt der Schaffung neuer Arbeitsplätze sollten bei der Regionalförderung Innovationen und die Produktivitätssteigerung in den Unternehmen Vorrang haben. Die digitale Infrastruktur muss in Ostdeutschland zügig mit Glasfasernetzen und 5G-Mobilfunk ausgebaut werden. Außerdem müssen die vielen kleinen und mittleren Unternehmen bei der Fachkräftegewinnung im In- und Ausland unterstützt werden – wobei sie aber auch selbst als Botschafter für eine positive Sicht auf Zuwanderung in ihren Heimatregionen auftreten sollten.

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