Der Informationsdienst
des Instituts der deutschen Wirtschaft

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Wachstum Lesezeit 3 Min.

Bundesbürger könnten länger arbeiten

Deutschland kann zwar auf ein Jahrzehnt Beschäftigungsaufbau zurückblicken, doch ein Blick auf andere Länder macht deutlich, dass das Arbeitskräftepotenzial noch nicht ausgeschöpft ist. Eine Simulationsrechnung des IW zeigt, wie stark das Wachstum und der Schuldenabbau profitieren könnten, wenn mehr Bundesbürger arbeiten würden – und das auch mit einer höheren Jahresarbeitszeit.

Kernaussagen in Kürze:
  • Wachstum und Schuldenabbau würden von einem höheren Arbeitsvolumen profitieren.
  • Allein durch eine Erhöhung der Wochenarbeitszeit von 34 auf 36 Stunden stiege das BIP nach fünf Jahren um 1,3 Prozent.
  • Die größten Effekte erzielt eine Kombination aus längerer Wochenarbeitszeit, mehr Arbeitswochen pro Jahr und höherer Erwerbsbeteiligung.
Zur detaillierten Fassung

So mancher Ökonom beschreibt den deutschen Arbeitsmarkt der vergangenen zehn Jahre als goldene Dekade: Die Beschäftigtenzahlen erreichten Rekordhöhe, die Löhne stiegen. Jetzt aber haben nicht nur die Folgen der Pandemie den Boom gestoppt – allein 2020 sank die Zahl der Erwerbstätigen um mehr als ein Prozent. Auch der demografische Wandel hinterlässt inzwischen sichtbare Spuren, denn die geburtenstarken Jahrgänge gehen nach und nach in den Ruhestand. Bis 2030, so das Statistische Bundesamt, werden dem Arbeitsmarkt vier Millionen weniger 20- bis 64-Jährige zur Verfügung stehen als noch 2019.

Eine höhere Jahresarbeitszeit bei gleichzeitiger Erhöhung der Erwerbsbeteiligung würden das deutsche BIP nach zehn Jahren im Vergleich zum Niveau ohne Anpassungen um 7,8 Prozent erhöhen.

Doch es ist möglich, die Folgen des demografischen Wandels für den Arbeitsmarkt und die wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland zu beschränken. Das IW hat die heimischen Strukturen mit denen von Schweden und der Schweiz verglichen, denn beide Länder gelten als beschäftigungspolitische Erfolgsmodelle (siehe iwd 11/2021). Der Ländervergleich zeigt: Der wichtigste Hebel liegt in den Arbeitszeiten. In der Schweiz zum Beispiel arbeiten Frauen und Männer nicht nur deutlich mehr Stunden pro Woche, sondern auch fast anderthalb Arbeitswochen pro Jahr mehr als die Bundesbürger.

Dieses Potenzial ließe sich zum Beispiel heben, indem unfreiwillige Teilzeit in Deutschland abgebaut und die Wochenarbeitszeit der Frauen an die der Männer angeglichen wird – was über steigende Steuer- und Beitragseinnahmen auch der Staatskasse zugutekommt.

Die Größenordnung der zu erwartenden Effekte hat das IW mithilfe des makroökonomischen Weltwirtschaftsmodells von Oxford Economics simuliert. Dabei wurden fünf Szenarien entworfen, mit denen die Veränderungen jeweils über zehn Jahre gestreckt und mit einem Basisszenario verglichen wurden, das den Status quo aus 2019 in Sachen Wochenarbeitszeit, Arbeitswochen und Erwerbstätigenquote beibehält:

Szenario 1: Die Zahl der durchschnittlichen Wochenarbeitsstunden erhöht sich von 34 auf 36.

Szenario 2: Die Zahl der durchschnittlichen Wochenarbeitsstunden erhöht sich von 34 auf 36 Stunden und die der jährlichen Arbeitswochen um 1,5 Wochen.

Szenario 3: Die Erwerbstätigenquote steigt um 2,5 Prozentpunkte.

Szenario 4: Das ist eine Kombination aus den Varianten 1 und 3.

Szenario 5: Das ist eine Kombination aus den Szenarien 2 und 3.

Die Ergebnisse der Modellrechnung im Einzelnen:

Auswirkungen auf das Bruttoinlandsprodukt (BIP). Allein durch eine Erhöhung der Wochenarbeitszeit auf 36 Stunden (Szenario 1) würde das preisbereinigte BIP in Deutschland nach fünf Jahren um 1,3 Prozent und nach zehn Jahren um 3,4 Prozent höher ausfallen als ohne Anpassung. Kombiniert mit einer Erhöhung der Zahl der Arbeitswochen (Szenario 2) betrüge das Plus nach fünf Jahren sogar 2,3 Prozent und nach zehn Jahren 6,0 Prozent. Der größte Effekt ließe sich jedoch erzielen, wenn Szenario 2 und Szenario 3 kombiniert würden (Grafik):

Eine längere Wochenarbeitszeit und mehr Arbeitswochen bei gleichzeitiger Erhöhung der Erwerbsbeteiligung würden das deutsche BIP nach zehn Jahren im Vergleich zum Niveau ohne Anpassungen um 7,8 Prozent erhöhen.

Veränderung des BIP in verschiedenen Szenarien Download: Grafik (JPG) herunterladen Grafik (EPS) herunterladen Tabelle (XLSX) herunterladen

Selbst nach fünf Jahren fiele das BIP höher aus als im Basisszenario.

Auswirkungen auf die Staatsschuldenquote. Wenn mehr Menschen länger arbeiten, klingelt es natürlich auch in den Staatskassen, was den Schuldenabbau erheblich beschleunigt (Grafik):

Je nach Szenario könnte die Staatsschuldenquote nach fünf Jahren um 1,6 bis 4,2 Prozentpunkte niedriger liegen als ohne Anpassung, nach zehn Jahren wären sogar bis zu 16,4 Prozentpunkte möglich.

Veränderung der Staatsverschuldung in verschiedenen Szenarien Download: Grafik (JPG) herunterladen Grafik (EPS) herunterladen Tabelle (XLSX) herunterladen

So beeindruckend das Wachstumspotenzial und die Beschleunigung des Schuldenabbaus auch sind – es ist wichtig zu sehen, dass diese Zahlen das Ergebnis einer Simulation sind. Es handelt sich also um eine erste Schätzung, nicht um eine Prognose über die tatsächliche Entwicklung. Der Grund dafür ist, dass sich die einzelnen Variablen gegenseitig beeinflussen: Gelänge es zum Beispiel, die Erwerbsbeteiligung der Bundesbürger zu erhöhen, könnte dies die durchschnittliche Jahresarbeitszeit sogar reduzieren – wenn nämlich die neuen Beschäftigungen überwiegend in Teilzeit ausgeübt werden.

Auch wenn sich durch die Anpassungen die goldene Dekade nicht wiederholen lässt – schon eine teilweise Ausschöpfung der vorhandenen Potenziale würde zu erheblichen Wachstumsgewinnen führen. Ein Herauswachsen aus der krisenbedingt gestiegenen Schuldenquote ist also denkbar. Dazu braucht es allerdings den Mut, die Weichen auf dem Arbeitsmarkt richtig zu stellen und ein höheres Arbeitsvolumen in Deutschland zu mobilisieren.

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