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Vereinigtes Königreich: Wirtschaft und Arbeitsmarkt sind geschwächt

Der Austritt aus der Europäischen Union sollte das Vereinigte Königreich der Regierung zufolge unabhängiger machen und wirtschaftlich stärken. Tatsächlich aber kämpft das Land unter anderem mit handelspolitischen Problemen und hat viele dringend benötigte Arbeitskräfte verloren.

Kernaussagen in Kürze:
  • Der Brexit dürfte die britische Wirtschaft nachhaltig schwächen – das Bruttoinlandsprodukt könnte längerfristig um etwa 4 Prozent niedriger ausfallen als bei einem Verbleib des Landes in der EU.
  • Wirtschaftsforschern zufolge ist das Vereinigte Königreich durch den Brexit bereits weniger handelsintensiv geworden.
  • Zudem sind viele dringend benötigte Arbeitskräfte bereits abgewandert, weitere dürften folgen.
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Liz Truss oder Rishi Sunak – am 5. September soll feststehen, wer die Nachfolge von Boris Johnson als Vorsitzender der konservativen Tory-Partei antritt und damit neuer britischer Premierminister wird.

Egal, wie das Rennen ausgeht: Truss oder Sunak muss nicht nur die wirtschaftlichen Folgen von Corona und Ukraine-Krieg in den Griff bekommen, sondern sich auch mit den Folgen des Brexits beschäftigen. Denn gut eineinhalb Jahre nach dem endgültigen Austritt aus der EU ist von den Versprechen der Regierung, das Land werde nicht nur Entscheidungsbefugnisse zurückbekommen, sondern auch wirtschaftlich gestärkt aus dem Brexit hervorgehen, wenig zu sehen – im Gegenteil:

Wissenschaftlichen Studien zufolge könnte das britische Bruttoinlandsprodukt (BIP) längerfristig um etwa 4 Prozent niedriger ausfallen als bei einem Verbleib in der EU.

Die Palette der durch den Brexit verursachten Probleme ist lang. Zwei Beispiele:

Handel. An die Stelle der Mitgliedschaft in der Europäischen Union ist ein Handels- und Kooperationsabkommen getreten. Damit gibt es zwar im Handel zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU keine Zölle und keine mengenmäßigen Handelsbeschränkungen. Doch im Unterschied zu einer Zollunion behalten die beteiligten Wirtschaftsräume ihre jeweiligen Außenzölle bei. Deshalb sind Grenzkontrollen notwendig, um beispielsweise zu verhindern, dass ein Drittstaat den im Vergleich zur EU niedrigeren britischen Außenzoll für ein Gut nutzt, um dieses günstiger in die EU zu exportieren.

Nordirland im Fokus

Besonders brenzlig sind diese Kontrollen für die Beziehungen zwischen dem Vereinigten Königreich und Irland. Um die jahrzehntelangen politischen Konflikte zwischen Irland und dem zum Vereinigten Königreich gehörenden Nordirland nicht wieder aufflammen zu lassen, wurde im Nordirland-Protokoll zum Austrittsabkommen festgelegt, dass Nordirland im EU-Binnenmarkt verbleibt und die nötigen Kontrollen für den Warenverkehr zwischen Nordirland und Großbritannien (so die offizielle Bezeichnung für das Vereinigte Königreich ohne Nordirland) stattfinden.

Diese Regelung ist pro-britischen Unionisten in Nordirland und manchen konservativen Politikern in London ein Dorn im Auge. Die Handelsbeziehungen werden zudem tendenziell eher komplexer, weil Nordirland den Regeln des EU-Binnenmarktes folgen muss. Ändert die EU hier Vorschriften – wie zuletzt etwa in den Bereichen Arzneimittelüberwachung, Energieabgaben und Fahrzeugsicherheit –, kann dies für Unternehmen in Nordirland, die mit den britischen Nachbarn Handel treiben, die administrativen Kosten in die Höhe treiben.

Der Brexit hat die Handelsbeziehungen des Vereinigten Königreichs deutlich negativ beeinflusst.

Dies führt in der Praxis bereits dazu, dass sich die Handelsströme in der Region ändern. Die irischen Importe aus Großbritannien sind im Jahr 2021 um mehr als 13 Prozent zurückgegangen. Stattdessen rückt die Wirtschaft auf der irischen Insel näher zusammen (Grafik):

Die irischen Exporte nach Nordirland sind im vergangenen Jahr sprunghaft um fast 54 Prozent gestiegen, die Importe aus dem nördlichen Inselteil legten sogar um rund 65 Prozent zu.

Veränderung der irischen Exporte und Importe nach beziehungsweise aus Nordirland gegenüber Vorjahr in Prozent Download: Grafik (JPG) herunterladen Grafik (EPS) herunterladen Tabelle (XLSX) herunterladen

Jenseits der speziellen Nordirland-Problematik gehen Ökonomen davon aus, dass der Brexit den Warenhandel des Vereinigten Königreichs mit der gesamten Europäischen Union längerfristig um etwa 15 Prozent verringern wird. Lieferketten werden in der Regel nicht von heute auf morgen angepasst, doch bereits im ersten Jahr nach dem endgültigen britischen Ausscheiden aus der EU war eine deutliche Veränderung der Handelsströme festzustellen (Grafik):

Die britischen Einfuhren aus der EU sind nach dem coronabedingten Einbruch im Jahr 2020 zuletzt nochmals um 4,4 Prozent gesunken. Die Importe aus anderen Ländern stiegen dagegen 2021 teils um mehr als 30 Prozent.

Veränderung der britischen Importe aus diesen Ländergruppen gegenüber Vorjahr in Prozent Download: Grafik (JPG) herunterladen Grafik (EPS) herunterladen Tabelle (XLSX) herunterladen

Hier zeigt sich also ein deutlicher Brexit-Effekt.

Die Exporte des Vereinigten Königreichs in die EU sind 2021 mit knapp 4 Prozent zwar in etwa so stark gewachsen wie die Lieferungen an Drittländer insgesamt. Das Plus im Handel mit der EU ist aber vor allem auf starke Zuwächse der Exporte nach Belgien und in die Niederlande zurückzuführen. Die Vermutung liegt nahe, dass über deren große Seehäfen viele Güter weiter in Staaten außerhalb der EU verschifft wurden.

Handelsabkommen können Brexit-Verluste kaum kompensieren

Wirtschaftsforschern zufolge ist das Vereinigte Königreich unterm Strich durch den Brexit bereits weniger handelsintensiv geworden. Und die Hoffnung der britischen Regierung, die damit zusammenhängenden wirtschaftlichen Einbußen durch bilaterale Freihandelsabkommen mit anderen Staaten zu kompensieren, dürften sich vorerst kaum erfüllen. Selbst wenn die geschlossenen Abkommen mit Australien, Neuseeland und Japan sowie das noch im Verhandlungsprozess steckende Abkommen mit den USA zusammengerechnet würden, ergäbe sich Studien zufolge nur ein BIP-Zuwachs von 0,26 Prozent.

Arbeitsmarkt. Die Nachteile einer angeblich unkontrollierten Zuwanderung waren im Vorfeld des Brexit-Referendums von 2016 ein wesentliches Argument der britischen EU-Gegner.

Tatsächlich lebten im Jahr 2017 mehr als 3,8 Millionen Menschen mit einer Staatsangehörigkeit der übrigen 27 EU-Länder im Vereinigten Königreich. Allein rund eine Million davon kam aus Polen, das der EU im Jahr 2004 beigetreten war. Die Zahl der zugewanderten Bulgaren und Rumänen stieg sogar noch bis 2019 auf annähernd 600.000.

Viele dringend benötigte Arbeitskräfte wandern ab

Seither hat sich der Trend umgekehrt – bereits vor dem Ausbruch der Corona-Pandemie, und damit offensichtlich im Zusammenhang mit dem Brexit, verließen viele Mittel- und Osteuropäer den britischen Arbeitsmarkt (Grafik):

Bis Ende 2021 ging die Zahl der im Vereinigten Königreich lebenden Beschäftigten aus den zehn mittel- und osteuropäischen EU-Ländern um insgesamt mehr als 400.000 zurück.

Beschäftigte im Vereinigten Königreich mit dieser Staatsangehörigkeit in 1.000 Download: Grafik (JPG) herunterladen Grafik (EPS) herunterladen Tabelle (XLSX) herunterladen

Damit verlor die britische Wirtschaft dringend benötigte Arbeitskräfte wie Lkw-Fahrer, Erntehelfer und Pflegekräfte. In vielen Unternehmen machten die Arbeitskräfte aus der EU bis zuletzt einen erheblichen Teil der Belegschaft aus: Noch 2019 stammten jeweils 13 Prozent der Beschäftigten im Gesundheitsbereich sowie im Transport- und Logistikgewerbe aus einem EU-Land, im Verarbeitenden Gewerbe lag der Anteil bei 11 Prozent.

Zu befürchten ist, dass noch mehr EU-Bürger dem Vereinigten Königreich den Rücken kehren. Zumindest jene, die zuvor weniger als fünf Jahre im Vereinigten Königreich gelebt haben, können nun auf Antrag lediglich einen „Presettled“-Status bekommen, der ihnen Verbleib für fünf Jahre ermöglicht. Danach ist ein erneuter Antrag erforderlich, um unbefristet im Land zu bleiben.

Für neue Einwanderer sind die Hürden noch höher: Sie müssen unter anderem in der Regel ein Mindest-Arbeitseinkommen vorweisen, das zum Beispiel in der Landwirtschaft oder im Transportgewerbe kaum zu erreichen ist.

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