Weniger Streiks, mehr Kooperation
Die Frist läuft: Einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zufolge ist die Bundesregierung verpflichtet, das Tarifeinheitsgesetz bis Ende 2018 zu überarbeiten. Die Politik muss dabei die Rechte kleinerer Gewerkschaften in Tarifverhandlungen stärken, aber zugleich die Tarifeinheit erhalten. Die Aufgabe ist schwierig, lohnt sich aber – denn das Gesetz zeigt bereits positive Wirkungen.
- Konkurrierende Gewerkschaften haben in der Vergangenheit langwierige Arbeitskämpfe verursacht. Als Reaktion darauf beschloss die Bundesregierung im Jahr 2015 das Tarifeinheitsgesetz.
- Das Bundesverfassungsgericht hat Teile des Gesetzes beanstandet. So darf es zum Beispiel nicht dazu führen, dass Beschäftigte langfristige, für die Lebensplanung entscheidende Leistungen verlieren.
- Ein positiver Effekt des Tarifeinheitsgesetzes ist aber schon zu sehen: Seit dem Mega-Streikjahr 2015 ist die Zahl der durch Arbeitskämpfe ausgefallenen Arbeitstage um fast 90 Prozent zurückgegangen.
Bahnkunden erinnern sich mit Schrecken: Vom Herbst 2014 bis zum Sommer 2015 führten Streiks immer wieder zu Zugausfällen und ließen genervte Berufspendler auf den Bahnsteigen stehen. Ein Grund für die scheinbar endlosen tarifpolitischen Auseinandersetzungen war, dass die große Branchengewerkschaft EVG und die Spartengewerkschaft der Lokführer, die GDL, um den Vertretungsanspruch für die Lokführer und das Zugpersonal rangen und deshalb nicht zusammen am Verhandlungstisch sitzen wollten.
Diese Tarifpluralität existiert auch in anderen Bereichen wie der Luftfahrt oder in den Krankenhäusern. Dabei steht meist eine große Branchengewerkschaft kleinen Spartenorganisationen gegenüber (Grafik):
Im Luftverkehr beispielsweise will sowohl die Gewerkschaft ver.di mit ihren insgesamt rund zwei Millionen Mitgliedern als auch die Unabhängige Flugbegleiter Organisation (UFO) mit nur 10.000 Mitgliedern die Interessen des Kabinenpersonals vertreten.
Solche Konstellationen haben zu langwierigen Arbeitskämpfen geführt, die auf dem Rücken der Verbraucher ausgetragen wurden. Als Reaktion darauf beschloss die Bundesregierung im Jahr 2015 das Tarifeinheitsgesetz.
Es besagt, dass im Fall konkurrierender Tarifverträge in einem Betrieb derjenige Vertrag zur Anwendung kommt, den die Gewerkschaft mit den meisten Mitgliedern ausgehandelt hat.
Spartengewerkschaften klagten gegen das Tarifeineinheitsgesetz
Nicht nur die Arbeitgeber, sondern auch ein Teil der im Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) vertretenen Organisationen befürworteten das neue Gesetz, da es die Gewerkschaftskonkurrenz reduzieren soll.
Auch mit den Einschränkungen, die das Bundesverfassungsgericht der Politik auferlegt hat, ist das Tarifeinheitsgesetz aus ökonomischer Sicht sinnvoll.
Die betroffenen Spartengewerkschaften – darunter auch die Vereinigung Cockpit (VC) für die Piloten und der Marburger Bund für die Ärzte – sowie ver.di und der Deutsche Beamtenbund warfen der Bundesregierung dagegen vor, die Tarifautonomie zu verletzen, und erhoben Klage vor dem Bundesverfassungsgericht.
Das Urteil fiel im Juli 2017. Die Richter in Karlsruhe sahen zwar die Grundrechte der Tarifpartner weitgehend gewahrt, gaben der Bundesregierung aber vor, das Tarifeinheitsgesetz bis Ende 2018 zu überarbeiten. Denn in seiner jetzigen Form könnte es dazu führen, dass die Interessen einzelner Berufsgruppen übergangen werden, weil die Tarifverträge kleinerer Gewerkschaften verdrängt werden.
Vor allem darf das Gesetz laut Gerichtsurteil nicht dazu führen, dass Beschäftigte langfristige, für die Lebensplanung entscheidende Leistungen verlieren, wie zum Beispiel eine tarifliche Alterssicherung oder eine Arbeitsplatzgarantie. Auch muss ein bestehender Tarifvertrag einer Minderheitsgewerkschaft in jenen Punkten unberührt bleiben, in denen es keine Überschneidungen mit dem jeweiligen Mehrheitsvertrag gibt.
Zudem darf die Unsicherheit über die Mehrheitsverhältnisse in einem Betrieb nicht dazu führen, dass Gewerkschaften für Streikfolgen in Haftung genommen werden – also zum Beispiel die Kosten für streikbedingte Produktionsausfälle tragen müssen. Das Streikrecht muss also gewahrt werden – auch wenn sich im Nachhinein herausstellt, dass der erstrittene Tarifvertrag gar nicht zur Geltung kommt.
Knifflige Aufgabe für die Bundesregierung
Die Bundesregierung hat bei der Überarbeitung des Gesetzes also einige knifflige Aufgaben zu lösen. Doch selbst mit den von Karlsruhe auferlegten Einschränkungen ist das Gesetz aus ökonomischer Sicht in jedem Fall sinnvoll. Schließlich soll es verhindern, dass einzelne Beschäftigtengruppen – wie Piloten oder Lokführer – ihre Schlüsselposition mithilfe konkurrierender Gewerkschaften zulasten anderer Berufsgruppen ausnutzen.
Gegner des Gesetzes argumentieren zwar, das Mehrheitsprinzip würde erst recht dazu führen, dass sich verschiedene Gewerkschaften in einer Branche beziehungsweise einem Betrieb in ihren Forderungen überbieten, um möglichst viele Mitglieder zu gewinnen. Davon ist bislang allerdings nichts zu sehen.
Vielmehr fällt eine erste Bilanz des Tarifeinheitsgesetzes positiv aus – nicht nur wegen der jüngsten Streikdaten (Grafik):
Seit dem Mega-Streikjahr 2015 ist die Zahl der durch Arbeitskämpfe ausgefallenen Arbeitstage um fast 90 Prozent auf nur noch knapp 130.000 zurückgegangen.
Auch ein näherer Blick auf jene Wirtschaftszweige mit besonders starken Spartengewerkschaften stimmt eher zuversichtlich:
In den Krankenhäusern haben sich die Gewerkschaften miteinander arrangiert – ver.di und der Marburger Bund wollen künftig keine Tarifverträge unterzeichnen, die den Vertrag der jeweils anderen Gewerkschaft verdrängen könnten.
In der Luftfahrt wurde 2015 die Industriegewerkschaft Luftverkehr (IGL) gegründet, um die Kräfte der rivalisierenden Spartengewerkschaften zu bündeln. Zu den Mitgliedern zählen UFO und die Gewerkschaft der Flugsicherung. Die Piloten haben sich allerdings noch nicht angeschlossen und der Dauerstreit zwischen ver.di und UFO um die Gunst des Kabinenpersonals schwelt weiter. Entsprechend wurden auch in der Tarifrunde 2016/2017 bei der Deutschen Lufthansa und ihrer Tochter Eurowings zwei verschiedene Tarifabschlüsse für die Kabinenbesatzungen ausgehandelt.
Im Schienenverkehr gibt es zwar noch keine Kooperation, aber auch hier hat das Tarifeinheitsgesetz befriedend gewirkt. Denn schon bevor es im Juli 2015 in Kraft trat, schloss die GDL mit der Deutschen Bahn ein Schlichtungsabkommen. Im Gegenzug erkannte die Bahn die GDL bis 2020 als Tarifpartner an. Ohne das „angedrohte“ Gesetz hätte sich die Gewerkschaft vermutlich nicht auf eine Schlichtung eingelassen. In der Tarifrunde 2017 übernahm die GDL dann – ohne Arbeitskampf – weitgehend den Tarifvertrag der größeren EVG.