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„So hart es ist: Wir müssen abwägen“

Kürzlich forderte IW-Direktor Michael Hüther, in der Bekämpfung der Corona-Pandemie die medizinischen Ziele mit den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bedürfnissen abzuwägen. Das Echo auf seinen Vorstoß war gewaltig. Neben viel Zuspruch gab es auch Kritik – nicht zuletzt, weil die mediale Darstellung seine Argumente zwangsläufig verkürzte und zuspitzte. Im iwd-Kommentar beziehen Hüther und IW-Geschäftsführer Hubertus Bardt nun Stellung.

Kernaussagen in Kürze:
  • IW-Direktor Michael Hüther und IW-Geschäftsführer Hubertus Bardt fordern, medizinische Ziele mit wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bedürfnissen in der Pandemie abzuwägen.
  • Für sie ist die Annahme unrealistisch, dass das Virus in einer globalisierten Welt trotz eines harten Lockdowns in Deutschland rasch verschwinden wird, weshalb sie von der Politik ein Konzept für ein neues Normal fordern.
  • Neben dem raschen Impfen setzen sie große Hoffnungen in deutlich mehr Tests und die lückenlose Nachverfolgung von Infektionsketten und verlangen hier beherzteres Handeln von der Politik.
Zur detaillierten Fassung

Schaden vom Volk abzuwenden, heißt es im Amtseid von Bundeskanzlerin und Bundeskabinett, muss Ziel jedes politischen Handelns sein. Eine schwere Corona-Infektion ist solch ein Schaden; der Tod eines geliebten Menschen sowieso. Es verbietet sich ohnehin, an Corona verstorbene Menschen oder mit dem Virus Infizierte mit ökonomischen Kennzahlen zu verrechnen.

Deutschland braucht ein Konzept für ein neues Normal mit dem Coronavirus – dafür sind die medizinischen Ziele mit den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bedürfnissen abzuwägen.

Wenn wir als Ökonomen betonen, dass ein Abwägen unumgänglich ist, geht es uns um etwas anderes. Es sind schließlich längst nicht nur die finanziellen Kosten des Lockdowns, die seitens der Politik bedacht werden müssen, wenn es um die Gestaltung der kommenden Monate geht.

Viel weitreichender sind all jene Effekte, die noch gar nicht vollumfänglich sichtbar und schon gar nicht seriös finanziell zu beziffern sind: Wie viele Kinder werden schulisch und auch mit Blick auf die Integration den Anschluss verlieren? Wie viele Geschäfte werden insolvent gehen; wie viele Bürger werden ihre Arbeits- und Ausbildungsplätze verlieren? Bei wie vielen Menschen bleiben – teils erhebliche – psychische Schäden zurück?

Das Coronavirus wird so leicht nicht verschwinden

Aktuell bringen einige Wissenschaftler die Option ins Spiel, das Virus restlos zu besiegen – mit rigorosen Lockdown-Maßnahmen in Deutschland. Diese Option sehen wir nicht, so wünschbar sie zweifellos ist. Vielmehr ist davon auszugehen, dass Corona so leicht nicht verschwinden wird.

Michael Hüther ist Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft, Hubertus Bardt ist Geschäftsführer und Leiter des Wissenschaftsbereichs im IW; Fotos: IW Medien Es gilt: Solange das Virus nicht global eliminiert wurde, bleibt immer ein Risiko der Ansteckung – das Virus kann immer wieder eingeschleppt werden, bei offenen Grenzen ist das nicht zu vermeiden.

Und auch ein ausreichend hoher Impfschutz der Bevölkerung ist erst einmal nur ein Hoffnungswert, verknüpft mit vielen Unwägbarkeiten, beispielsweise mit Blick auf Mutationen.

Was Deutschland deshalb braucht, ist ein Konzept für ein neues Normal – eine Situation, in der das Virus wohl oder übel auf niedrigem Niveau, also kontrolliert, präsent bleibt.

Bislang scheut die Politik die Diskussion über ein neues Normal

So eine künftige Normalität des privaten, öffentlichen und wirtschaftlichen Lebens wird seitens der Politik aber noch immer kaum diskutiert.

Das irritiert. Auch, weil ein Abwägen zwischen den verbleibenden Risiken und dem Aufwand der Risikobegrenzung – explizit oder implizit – bei allen anderen schweren Krankheiten vorgenommen wird. Historisch war das nie anders. Doch bei Corona wird diese Diskussion gescheut.

Dabei ist sie schon aus verfassungsrechtlicher Perspektive geboten: Die Anti-Corona-Strategie auf Basis des Infektionsschutzgesetzes greift umfangreich in unsere Grundrechte ein.

Deshalb müssen wir die Politik, aber auch uns selbst immer wieder daran erinnern: Nicht unsere Freiheit ist begründungspflichtig, sondern jeder Eingriff des Staates in diese Freiheit – auch im Falle einer epidemischen Gefahrenlage von nationaler Tragweite.

Dass wir immer noch zu wenig über die wirklichen Eigenschaften der sich ausbreitenden Virusvarianten wissen, aber auch über Verbreitungswege, wird hier zum Problem. Denn dadurch fällt es schwerer, die politisch gebotenen Maßnahmen so minimalinvasiv wie möglich auszugestalten.

Auch die These, dass es in der Pandemie keinen Zielkonflikt zwischen wirtschaftlichen sowie gesellschaftlichen Zielen auf der einen Seite und medizinischen Zielen auf der anderen Seite gibt, überzeugt nur bis zu einem bestimmten Punkt: Ist das Virus stark verbreitet und wütet heftig, hilft sein Zurückdrängen durch Lockdown-Maßnahmen natürlich auch Wirtschaft und Gesellschaft.

Nebenwirkungen der Lockdown-Maßnahmen berücksichtigen

Doch bei einem niedrigen Krankheitsniveau und geringen Ansteckungsrisiken sind harte Einschränkungen schwieriger zu begründen.

Dann wiegen die oben skizzierten Nebenwirkungen der Lockdown-Maßnahmen umso schwerer und es muss kritisch gefragt werden: Welche wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Schäden sind noch zu rechtfertigen, um Neuinfektionen weiter zu reduzieren?

Dann geht es darum, herauszuarbeiten, auf welchem Gesamtniveau der Schaden aus Virusverbreitung einerseits und wirtschaftlichen sowie gesellschaftlichen Folgen andererseits kleinstmöglich ist.

Diesem Abwägen kann sich die Politik nicht länger entziehen. Denn es hilft nicht, wenn Entscheidungen einzig auf den greifbaren, kurzfristig messbaren Folgen der Pandemie fußen. Dann dürfte der Lockdown nie enden.

Nichtsdestotrotz muss diese schwierige Entscheidungsfindung von weiteren Maßnahmen flankiert werden. Ganz zentral ist die Impfstrategie, die bislang allerdings alles andere als überzeugend ist.

Impfen, testen und lückenlos nachverfolgen

Doch schon im Lockdown vor elf Monaten war beispielsweise dem Bundesinnenministerium klar, was weitere Kerninstrumente im Kampf gegen Corona sein müssen: zum einen umfassendes Testen und zum anderen eine möglichst lückenlose digitale Nachverfolgung, verknüpft mit einer deutlich besseren Datenverfügbarkeit und -auswertung.

Bei beidem ist die Exekutive in den vergangenen Monaten nur langsam vorangekommen. Doch genau darauf muss Deutschland jetzt dringender denn je setzen, um das Virus endlich zu beherrschen.

Eine Perspektive für die Bevölkerung schaffen

Denn in den zurückliegenden Wochen ist eines immer deutlicher geworden: Die Corona-Krise zermürbt die Menschen und das Krisenmanagement der Regierung vermittelt keine Ausstiegsperspektive. So ist es – auch angesichts sich ausbreitender Mutationen – zwar verständlich, dass beispielsweise schärfere Grenzwerte diskutiert werden. Doch wenn beim Inzidenzwert die 35 auf einmal die 50 ersetzen soll, muss das gut erklärt werden, zumal diese Zahlen wegen der Abhängigkeit von der Testintensität ohnehin nur begrenzte Aussagekraft haben. Bedeutsamer ist die Hospitalisierungsrate der Infizierten.

Was wir jetzt brauchen, ist eine Perspektive für die Bevölkerung. Die kann die Regierung bieten: Indem sie den Mut hat, abzuwägen, und damit ein verantwortbares Wiederhochfahren des öffentlichen Lebens ermöglicht. So kann, das ist unsere Überzeugung, eine Rückkehr in ein neues Normal gelingen.

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