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Sind die deutschen Klimaziele zu herausfordernd?

Deutschland will bis 2045 klimaneutral werden. Ist das zu schaffen? Kein Problem, findet DIW-Klimaforscherin Claudia Kemfert. Wenn die neuen Klimaziele in ein Nullwachstum münden, dann sei das schon ein Problem, entgegnet IW-Geschäftsführer Hubertus Bardt.

Kernaussagen in Kürze:
  • Sind die neuen Ziele der Bundesregierung zum Klimaschutz zu herausfordernd? Ja, sagt IW-Geschäftsführer Hubertus Bardt, der fürchtet, dass es zur Stagnation kommen könnte.
  • Nein, die neuen Klimaschutzziele sind immer noch nicht ausreichend, wenn man die Ziele des Pariser Klimaschutzabkommens erreichen will, sagt DIW-Klimaforscherin Claudia Kemfert.
  • Einig sind sich beide, dass der Staat mehr dafür tun muss, um die neuen Klimaziele zu erreichen. Es reiche nicht aus, nur Ziele zu setzen.
Ja,
sagt
Hubertus Bardt,

Geschäftsführer

Hubertus Bardt, Geschäftsführer und Leiter Wissenschaft am Institut der deutschen Wirtschaft.

Die neuen Klimaziele sind zu herausfordernd – zumindest dann, wenn nicht schnell die Voraussetzungen dafür geschaffen werden, dass industriell basierte Wohlstandsmehrung und Klimaneutralität zusammen gelingen können.

Der Anspruch, in den nächsten Jahrzehnten klimaneutral zu werden, stellt Wirtschaft und Gesellschaft vor kaum zu unterschätzende Herausforderungen. Um die Treibhausgasemissionen vollständig zu verbannen, reicht eine graduelle Effizienzsteigerung nicht aus. Vielmehr müssen ganze Produktionsprozesse neu aufgebaut und Produkte grundlegend verändert werden. In der Autoindustrie lässt sich beobachten, wie elektrisches Fahren immer bedeutender wird. Die Industrie investiert Milliarden in neue Technologien und Produktionsanlagen.

Das Umweltbundesamt hat vor zwei Jahren ein Szenario berechnet, das den Vorgaben des neuen Klimaschutzgesetzes recht nahekommt. Für die Wirtschaft wurde unterstellt, dass die Exportorientierung zurückgenommen und damit das bestehende Erfolgsmodell infrage gestellt wird.

Schwieriger ist die Lage in der Grundstoffproduktion, wo viel Energie benötigt und Emissionen verursacht werden. Die Alternativen liegen hier beispielsweise in einer Umstellung der Energieversorgung: Die Chemieindustrie könnte ihre Produktion auf grünen Strom und die Stahlbranche auf grünen Wasserstoff umstellen, um nur zwei Beispiele zu nennen. Das Problem ist: Hierfür sind erhebliche Investitionen erforderlich, zudem fallen auch höhere laufende Kosten an. Beides ist bis auf Weiteres am Markt nicht zu finanzieren, da die Belastungen für die Produktion der gleichen Güter in anderen Ländern viel geringer sind. Neben klaren und verlässlichen Fördermöglichkeiten bedarf es neuer oder verbesserter Infrastrukturen für Wasserstoff und Ökostrom sowie ein ausreichendes Angebot an Energieträgern. Der Wasserstoffbedarf wird sich vervielfachen; allein die Chemie rechnet mit einem Bedarf an günstigem grünen Strom, der höher ist als die derzeitige gesamte Stromproduktion Deutschlands.

Dauerhafte Stagnation kann keine befriedigende Antwort sein

Wenn Deutschland sogar fünf Jahre früher klimaneutral sein will als die Europäische Union insgesamt, wird die Aufgabe noch einmal größer. Das Umweltbundesamt hat vor zwei Jahren ein Szenario berechnet, das den Vorgaben des neuen Klimaschutzgesetzes recht nahekommt. Dieses Szenario war aber verbunden mit kleineren Wohnungen, weniger Fleischkonsum und der Begrenzung von Fernreisen. Für die Wirtschaft wurde unterstellt, dass die Exportorientierung zurückgenommen und damit das bestehende Erfolgsmodell infrage gestellt wird. Vor allem aber setzt das Szenario ab 2030 ein Nullwachstum voraus. Dauerhafte Stagnation kann aber keine befriedigende Antwort sein, denn so lässt sich die Herausforderung der Klimaneutralität nicht bewältigen: In einer solchen Situation fehlen beispielsweise Raum und Anreize für Innovationen, die doch für die klimafreundliche Transformation dringend benötigt werden.

Wenn es nicht gelingt, eine klare Perspektive für die besonders geforderten Branchen zu entwickeln, drohen ein schleichender Niedergang und ein nachhaltiger Verlust an Standortattraktivität – ohne dass damit dem Klima geholfen wäre. Hier ist der Staat gefordert, der sich bisher vor allem mit Zielen und Vorgaben hervortut. Der deutsche Beitrag zum Klimaschutz kann hoch sein, wenn Klimaverträglichkeit und Industrie zusammen funktionieren. Wenn dies nicht gelingt, wird dem Wohlstand im Land, aber auch dem internationalen Klimaschutz ein Bärendienst erwiesen.

Nein,
sagt
Claudia Kemfert,

Leiterin der Abteilung Energie, Verkehr, Umwelt am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung

Claudia Kemfert, Leiterin der Abteilung Energie, Verkehr, Umwelt am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung.

Die deutschen Klimaziele sind nicht zu herausfordernd, sie sind überfällig! Dass die Bundesregierung nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts die Ziele nunmehr angepasst hat, ist ein Fortschritt, aber leider immer noch nicht genug. Zwar entsprechen die deutschen Ziele jetzt den vereinbarten EU-Klimazielen, aber bringen uns noch nicht auf den Pfad, der 2015 im Pariser Abkommen vereinbart wurde. Der Weg ist sowieso kein leichter. Die Transformation zu einer klimagerechten Wirtschaft braucht Ausdauer und Disziplin.

Party bis 2027, Kater ab 2028

Immerhin setzt sich langsam die Erkenntnis durch, dass es ein begrenztes CO2-Budget gibt, das Deutschland maximal noch zur Verfügung hat, wenn wir die Erderwärmung begrenzen wollen. Für 1,75 Grad Erderwärmung mehr wären das noch 6,7 Milliarden Tonnen CO2. Würde Deutschland sich am 1,5-Grad-Ziel orientieren, wofür es gute wissenschaftliche Gründe gibt, läge das verbleibende Budget bei nur 4,2 Milliarden Tonnen CO2. Dieses Restbudget haben wir im Rahmen eines Gutachtens des Sachverständigenrates für Umweltfragen ermittelt, es gilt ab 2020 und schrumpft quasi täglich. Wenn wir so weitermachen wie bisher, ist das Budget in spätestens sieben Jahren aufgebraucht. Im Klartext: „Party bis 2027“ bedeutet „krasser Kater ab 2028“. Für jede Verzögerung jetzt müssen wir später umso radikalere Klimaschutzmaßnahmen ergreifen. Und umgekehrt: Je schneller wir die Emissionen senken, desto mehr Zeit haben wir nach hinten raus.

Die deutschen Klimaziele sind nicht zu herausfordernd, sie sind überfällig! Dass die Bundesregierung die Ziele nunmehr angepasst hat, ist ein Fortschritt, aber leider immer noch nicht genug.

Aber mit Zielen allein macht man keinen Klimaschutz. Es fehlen nach wie vor die erforderlichen Maßnahmen: Die erneuerbaren Energien müssen viel schneller ausgebaut werden, heißt: Genehmigungsverfahren müssen erleichtert, finanzielle Beteiligungsmodelle erweitert, Marktbarrieren abgebaut und die Bürgerenergie gestärkt werden. Ganz konkret: Wir benötigen einen jährlichen Zubau von 10 Gigawatt Wind- und 20 Gigawatt Solarenergie, somit mindestens eine Vervierfachung der derzeitigen Ausbauraten, um den steigenden Stromverbrauch abzudecken.

Die Bundesregierung steht aber beim Ausbau komplett auf der Bremse und ignoriert den steigenden Stromverbrauch. So laufen wir sehenden Auges in eine Ökostromlücke und sitzen irgendwann im Dunkeln, wenn wir nicht die Pariser Verträge brechen wollen.

Ohnehin muss gleichzeitig alles dafür getan werden, um Energie einzusparen: Wir brauchen eine energetische Gebäudesanierung, Energieeffizienzprogramme in der Industrie und eine konsequente Förderung von Schienenverkehr und Elektromobilität.

Der neue US-Präsident macht derzeit eindrucksvoll vor, wie kluger Klimaschutz mit Investitionen und der Erschließung von Zukunftsmärkten gelingen kann. Die Wissenschaft erklärt es seit Jahren: Klimaschutz schafft enorme wirtschaftliche Chancen, Innovationen, Wertschöpfung und zukunftsfähige Jobs. Genau darauf kommt es jetzt an.

Noch steht Deutschland im Stau: im Modernisierungs- und im Investitionsstau. Für den Ausbau von Digitalisierung und Infrastruktur brauchen wir deutlich mehr Entschlossenheit. Die neue Zielvereinbarung der Bundesregierung ist hoffentlich der ultimative Startschuss in eine andere Klima-Zukunft. Wir können drei Krisen mit einer Klappe schlagen: die Energiekrise durch Stärkung der Resilienz und Versorgungssicherheit, die Wirtschaftskrise durch Investitionen in Zukunftsmärkte und die Klimakrise durch sinkende Emissionen. Eine Win-win-win-Situation. Worauf warten wir noch? Let’s do it!

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