Mindestlohn in Europa: In welchem Land ist er am höchsten?
In 21 von 27 Mitgliedsstaaten der Europäischen Union existiert eine verbindliche Lohnuntergrenze. Deutschland steht mit einem Mindestlohn von 9,82 Euro auf Rang sechs, wird aber mit der beschlossenen Erhöhung auf 12 Euro ab Oktober fast an die Spitze rücken. Ökonomisch betrachtet ist der starke Eingriff ins Lohngefüge problematisch – aus mehreren Gründen.
- Derzeit hat Deutschland den sechsthöchsten gesetzlichen Mindestlohn aller EU-Länder, mit der für Oktober geplanten Erhöhung auf 12 Euro je Stunde würde Deutschland im EU-Ranking an die zweite Stelle rücken.
- Die durch staatliches Eingreifen bewirkte Mindestlohnerhöhung könnte mehrere negative Folgen haben: So würde der Druck auf die Unternehmen enorm steigen und sich viele Betriebe möglicherweise vollständig aus der Tarifbindung verabschieden.
- Zudem ist keineswegs ausgemacht, dass der höhere Mindestlohn das Armutsrisiko in der Bevölkerung insgesamt senken würde.
Fast alle EU-Länder mit einem gesetzlichen Mindestlohn haben diesen zu Beginn des laufenden Jahres angehoben – keine Anpassung gab es lediglich in Bulgarien, Lettland und Luxemburg. Dennoch steht das Großherzogtum weiterhin an der Spitze des europäischen Mindestlohnrankings (Grafik):
Mit 13,05 Euro je Stunde war der Mindestlohn in Luxemburg zum 1.1.2022 EU-weit am höchsten, das Schlusslicht bildete Bulgarien mit umgerechnet 2 Euro.
Berücksichtigt man die unterschiedliche Kaufkraft, also das, was die Beschäftigten in den einzelnen Ländern für ihren Lohn in den Geschäften bekommen, verringert sich das Gefälle zwar, bleibt aber deutlich: Kaufkraftbereinigt betrug der Mindestlohn zum Jahresbeginn in Bulgarien 3,41 Euro, in Luxemburg dagegen 9,09 Euro.
Deutschland gewährt den Beschäftigten derzeit mit nominal 9,82 Euro den EU-weit sechsthöchsten Mindestlohn. Dabei wird es jedoch nicht bleiben. Zum 1. Juli steht, wie von der Mindestlohnkommission beschlossen, die nächste reguläre Anhebung auf 10,45 Euro an.
Steigt der gesetzliche Mindestlohn, wie von der Bundesregierung beschlossen, ab 1. Oktober auf 12 Euro, würde Deutschland im EU-Mindestlohnranking an die zweite Stelle rücken.
Wenn es allerdings nach der Bundesregierung geht, wird der gesetzliche Mindestlohn bereits am 1. Oktober erneut steigen – und zwar deutlich auf 12 Euro. Einen entsprechenden Beschluss hat das Bundeskabinett bereits im Februar gefasst. Kommt es so, würde Deutschland im EU-Mindestlohnranking an die zweite Stelle hinter Luxemburg rücken.
Mindestlohnerhöhung gefährdet die Tarifautonomie
Was für die Bezieher geringer Löhne erst mal nach einer guten Neuigkeit klingt, ist unter ökonomischen Gesichtspunkten durchaus kritisch zu sehen. Ein wichtiger ordnungspolitischer Punkt ist die Gefahr, dass es nicht bei dem einmaligen politischen Eingriff bleibt und die Bundesregierung auch künftig Mindestlohnanpassungen vorgibt, anstatt dies der Mindestlohnkommission zu überlassen. Damit würde die – im Grundgesetz verankerte – Tarifautonomie gefährdet.
Diese fußt ja gerade darauf, dass die in der Mindestlohnkommission vertretenen Tarifpartner – Gewerkschaften und Arbeitgeber – am besten wissen, welche Lohnhöhen in den einzelnen Branchen adäquat und wirtschaftlich tragbar sind. Im Zuge dieses Miteinanders haben die Tarifpartner eine Reihe von Branchen-Mindestlöhnen beschlossen, die bereits jetzt teils deutlich über der 12-Euro-Marke liegen:
Beschäftigte in der Glas- und Fassadenreinigung beispielsweise werden derzeit mit mindestens 14,81 Euro je Stunde entlohnt, Schornsteinfeger mit 13,80 Euro.
Auch in der Pflege mit ihren oft kritisierten Arbeitsbedingungen steht gelernten Kräften ab April ein Mindestlohn von 13,20 Euro pro Stunde zu.
In Wirtschaftsbereichen wie diesen bringt ein gesetzlicher Mindestlohn von 12 Euro also keine weiteren Fortschritte. Zugleich dürfte in Branchen, wo die bisherigen tariflichen Mindestentgelte deutlich unter 12 Euro liegen, der wirtschaftliche Druck auf die Unternehmen enorm steigen. Viele, vor allem kleinere Betriebe werden sich möglicherweise vollständig aus der Tarifbindung verabschieden, weil sie die Löhne von Beschäftigten höherer Tarifgruppen nicht mehr stemmen können (siehe "Mindestlohn: Eingreifen der Politik gefährdet Tarifautonomie“).
Armutsrisiko könnte steigen, statt zu sinken
Die Bundesregierung begründet die Erhöhung des Mindestlohns nicht zuletzt mit dem Argument, es müsse sichergestellt werden, dass Menschen von ihrem Einkommen angemessen leben können. Die Ampelkoalition übernimmt damit die Argumentation der EU-Kommission, die mit einer geplanten Richtlinie den Mindestlohn europaweit an den Bruttomedianlohn koppeln will (siehe „Ein europäischer Mindestlohn“). Doch auch diese Rechtfertigung für einen höheren Mindestlohn kann nicht wirklich überzeugen.
Erstens sind Beschäftigte in Deutschland relativ selten von Armut bedroht:
Von den Geringverdienern liegen gerade einmal 22 Prozent unter der Armutsgefährdungsschwelle von 60 Prozent des mittleren Einkommens der Gesamtbevölkerung. Von den Arbeitslosen hingegen sind fast 69 Prozent von Armut bedroht.
Wer aber keinen Job hat, profitiert auch nicht vom höheren Mindestlohn. Im Gegenteil ist nicht auszuschließen, dass die geplante starke Erhöhung des Mindestlohns Stellen wegfallen lässt und somit das Armutsrisiko insgesamt sogar steigt.
Hoher Subventionsbedarf
Zweitens verkennt der europäische Ansatz, den Mindestlohn am Bruttomedianlohn auszurichten, die unterschiedliche Gestaltung der Sozialsysteme in den einzelnen EU-Mitgliedsstaaten. So federt beispielsweise der französische Staat die Mindestlohnbelastung der Unternehmen dadurch ab, dass er die Sozialabgaben für Beschäftigte bis zu einem Gehalt vom 1,6-Fachen des Mindestlohns subventioniert. Dafür wendete Frankreich im Jahr 2019 mehr als 23 Milliarden Euro auf.
Eine solche Abfederung der Arbeitskosten gibt es für die Unternehmen in Deutschland nicht. Die höheren Kosten eines auf 12 Euro steigenden Mindestlohns müssten die Firmen daher allein schultern – mit negativen Auswirkungen auf ihre Wettbewerbsfähigkeit.