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Beim Mindestlohn ist Vorsicht geboten

Dank des langjährigen Konjunkturbooms hat die deutsche Wirtschaft die Einführung des gesetzlichen Mindestlohns im Jahr 2015 bislang ohne größere Beschäftigungsverluste verkraftet. Das könnte sich bald ändern, wollen die Gewerkschaften doch ungeachtet der Corona-Krise eine kräftige Anhebung der unteren Lohngrenze durchsetzen. Ihr Argument, ein höherer Mindestlohn würde das Armutsrisiko senken, ist allerdings wenig stichhaltig.

Kernaussagen in Kürze:
  • Unter Berücksichtigung der Kaufkraft hat Deutschland schon heute den vierthöchsten gesetzlichen Mindestlohn in Europa.
  • Vollzeitbeschäftigte in Deutschland, die einen Verdienst auf Mindestlohnniveau haben, liegen nur selten unter der Armutsgefährdungsschwelle.
  • Eine drastische Anhebung des Mindestlohns könnte gerade in der Corona-Krise zusätzliche Arbeitsplätze kosten – und Arbeitslosigkeit steigert das Armutsrisiko erheblich.
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12 Euro je Stunde – auf diesen Betrag soll der Mindestlohn in Deutschland demnächst steigen, wenn es nach den Vorstellungen von Gewerkschaften und einigen Politikern geht. Das wäre gegenüber dem heutigen Niveau von 9,35 Euro ein Anstieg um mehr als 28 Prozent.

Dabei ist Deutschland schon heute in Sachen Lohnuntergrenze keineswegs knauserig, wie ein europaweiter Vergleich zeigt. Bislang haben 21 europäische Länder einen gesetzlichen Mindestlohn eingeführt – schaut man auf die nominal gezahlten Beträge, steht Deutschland in diesem Ranking auf Platz sieben.

Den höchsten Mindestlohn gibt es mit 12,38 Euro je Stunde in Luxemburg, am wenigsten bekommen Mindestlohnbezieher in Bulgarien mit 1,87 Euro je Stunde.

Allerdings weicht das Preisniveau in den einzelnen europäischen Staaten stark voneinander ab. Demzufolge können sich die Menschen von ihrem Mindestlohn unterschiedlich viel leisten. Berücksichtigt man diesen Kaufkrafteffekt und rechnet alle Mindestlöhne auf das deutsche Preisniveau um, rutscht Deutschland mit den für seinen hohen Wohlstand relativ niedrigen Lebenshaltungskosten in der Rangliste ein ganzes Stück nach oben (Grafik):

Im europäischen Ranking der kaufkraftbereinigten Mindestlöhne steht Deutschland auf Rang vier – nur in Luxemburg, Frankreich und den Niederlanden ist die Kaufkraft des Mindestlohns noch etwas höher.

Europäische Länder mit einem gesetzlichen Mindestlohn, im Jahr 2020 in Euro Download: Grafik (JPG) herunterladen Grafik (EPS) herunterladen Tabelle (XLSX) herunterladen

Insgesamt schrumpft das Mindestlohngefälle durch die Kaufkraftbereinigung – Schlusslicht ist nun Lettland mit einem Stundensatz von 3,59 Euro.

Ein zentrales Argument jener, die eine deutliche Anhebung des Mindestlohns in Deutschland befürworten, ist, dass nur ein höherer Mindestlohn wirksam gegen das Phänomen „Armut trotz Arbeit“ helfen könne. Dies hieße umgekehrt, das heutige Mindestlohnniveau wäre dazu nicht ausreichend.

Nach international gültiger Konvention gilt als armutsgefährdet, wer weniger als 60 Prozent des mittleren, bedarfsgewichteten Pro-Kopf-Nettoeinkommens verdient. Diese Rechnung berücksichtigt, dass Mehrpersonenhaushalte, pro Kopf gerechnet, einen geringeren Bedarf an bestimmten Gütern haben – zum Beispiel kommt ein Haushalt in der Regel mit einer Waschmaschine aus, egal, ob dort ein Single oder ein Ehepaar mit Kindern wohnt.

Mindestlohn verhindert "Armut trotz Arbeit"

So gemessen, erfüllt der Mindestlohn in Deutschland bereits heute weitestgehend das Kriterium, Armut zu vermeiden. Denn im Jahr 2018 kam ein Vollzeitarbeitnehmer, der auf Mindestlohnbasis arbeitete, im Monat nach Abzug von Steuern und Sozialabgaben auf knapp 98 Prozent der Armutsgefährdungsschwelle – der Beschäftigte konnte also mit seinem Verdienst seinen Lebensunterhalt im Wesentlichen aus eigener Kraft bestreiten.

Darüber hinaus ist schon die Vermutung falsch, dass Mindestlohnempfänger in besonderem Maße von Einkommensarmut betroffen seien. Zum einen leben sie häufig zusammen mit anderen Personen, die ein höheres Einkommen erzielen. Zum anderen ist für das Risiko der Einkommensarmut vor allem die Arbeitszeit ausschlaggebend:

Von den Vollzeitarbeitnehmern mit einem Stundenverdienst zwischen dem Mindestlohn und 10 Euro liegen lediglich 12 Prozent unter der Armutsgefährdungsschwelle.

Dieser Anteil ist nicht nur deutlich geringer als in der Bevölkerung insgesamt (16,7 Prozent), sondern auch gerade mal knapp halb so hoch wie bei den Teilzeitbeschäftigten aus derselben Stundenlohnkategorie mit 27 Prozent.

Eine Erhöhung aller Stundenverdienste ab 9,80 Euro auf mindestens 12 Euro würde die Armutsgefährungsquote der Beschäftigten schätzungsweise nur um 0,8 Prozentpunkte senken.

Naheliegenderweise verringert sich die Armutsgefährdungsquote von Vollzeitbeschäftigten mit steigendem Stundenlohn. Das heißt nun aber keineswegs, dass diese Quote drastisch sinken würde, wenn der Mindestlohn angehoben wird. Dies zeigt eine Simulation auf der Basis von Daten des Sozio-oekonomischen Panels. Zugrunde gelegt wurde dabei eine Erhöhung des Mindestlohns um 22 Prozent. Ein solches Plus wäre erforderlich, um den Mindestlohn im kommenden Jahr von voraussichtlich 9,80 Euro – auf dieses Niveau würde der Satz den bisherigen Regeln zufolge steigen – auf das von Gewerkschaften gewünschte Niveau von 12 Euro anzuheben. Die Folge:

Steigen alle Stundenverdienste ab 9,80 Euro auf mindestens 12 Euro, sinkt die Armutsgefährdungsquote der Beschäftigten schätzungsweise nur um 0,8 Prozentpunkte.

Bezogen auf die gesamte Bevölkerung ist sogar lediglich mit einem Rückgang der Quote um 0,5 Punkte zu rechnen.

Armutsrisiko Arbeitslosigkeit

Dabei unterstellt die Simulation sogar, dass die Unternehmen auf die gestiegenen Lohnkosten nicht mit einer Verkürzung der Arbeitszeiten reagieren und die deutliche Erhöhung des Mindestlohns auch keine negativen Beschäftigungseffekte verursacht.

Genau dies ist vor dem Hintergrund der Corona-Krise jedoch eine sehr optimistische Annahme – schließlich trifft die Krise nicht zuletzt jene kleinen Dienstleistungsbetriebe besonders hart, die Mindestlohnerhöhungen ohnehin am stärksten zu spüren bekommen. Eine Anhebung des Mindestlohns über die bisher geübte Praxis hinaus könnte deshalb in erheblichem Maße zusätzliche Arbeitsplätze kosten. Und wer keinen Job hat, für den steigt das Armutsrisiko erheblich – 57 Prozent der Arbeitslosen in Deutschland liegen mit ihrem Einkommen unterhalb der Armutsgefährdungsschwelle.

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