Interview Lesezeit 3 Min.

„Jede Krise hat mehr Europa hervorgebracht“

Die Europäische Union ist in einer schwierigen Lage, nicht nur wegen des Brexits und der damit einhergehenden Budgetkürzung. Warum die vielen Krisen dennoch keine fundamentale Bedrohung für die Staatengemeinschaft darstellen, erläutert Wolfgang Wessels, Direktor des Zentrums für Türkei- und EU-Studien (CETEUS) an der Universität zu Köln.

Kernaussagen in Kürze:
  • In der EU gibt es derzeit keinen Grundkonsens darüber, was konstitutionell anders gemacht werden soll.
  • Vor allem in der Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik liegen die EU-Mitgliedsstaaten noch weit auseinander. Dabei nehmen die Herausforderungen dort eher zu als ab.
  • Durch den Brexit haben die übrigen 27 EU-Staaten verstanden, wie wichtig es ist, diese Gemeinschaft mit allen Mühen zu erhalten.
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Macron und Merkel sprechen davon, dass eine Wiedergeburt oder eine Neugründung Europas notwendig sei. Ist dem so?

Diese Diskussion führen wir schon seit der Währungs- und Finanzkrise. Die einen plädieren für weniger Europa, eins, das sich nur auf die Kernaufgaben konzentriert, die anderen für mehr Europa in Richtung eines föderalen Europas. Dass es mehr Flexibilisierung braucht, um zum Beispiel in der Währungsunion in einer kleineren Ländergruppe effektiver vorgehen zu können, das steht erneut auf der europäischen Agenda. Doch dass die Mitgliedsstaaten tatsächlich einen komplett neuen EU-Vertrag verhandeln, ist angesichts der innenpolitischen Entwicklungen mit ausgeprägt populistischer Prägung nicht zu erwarten. Denn es gibt keinen Grundkonsens darüber, was konstitutionell anders gemacht werden soll.

Krisen gab es seit der Gründung der EU immer wieder. Was ist an der aktuellen Krise anders?

Es gibt ganz unterschiedliche Krisen: interne Krisen wie die, die durch die Ablehnung des Verfassungsvertrags im französischen Referendum entstanden ist. Dann gibt es Krisen, deren Ursachen zwar außerhalb der Mitgliedsstaaten liegen, die aber sehr wohl gravierende Folgen für die EU haben und möglicherweise – wie die Euro- oder die Migrationskrise – auch nachhaltig Fragen der unionsinternen Solidarität aufwerfen. Wenn jetzt überhaupt etwas anders ist, dann der Umstand, dass die EU mehrere Krisen gleichzeitig angehen muss.

Der Brexit war ein Weckruf: Die übrigen 27 EU-Staaten haben verstanden, wie wichtig es ist, diese Gemeinschaft mit allen Mühen zu erhalten.

Ist das ein Problem?

Ja und nein. Die zurückliegenden Krisen – und die größte Krise der EU war sicherlich die deutsche Wiedervereinigung – verliefen eigentlich immer nach einem ähnlichen Muster: Die Bewältigung hat ein Mehr an Europa geschaffen. Ob der Ausbau der Gemeinschaftsinstrumente die Probleme jedoch sinnvoll löst, ist jeweils zu hinterfragen.

Professor Wolfgang Wessels ist Direktor des Zentrums für Türkei- und EU-Studien (CETEUS) der Univerität zu Köln; © Universität zu Köln Oft wird in der EU um die Finanzen gestritten. Kann mehr Geld die aktuellen Probleme lösen?

Geld ist immer begrenzt, deshalb wird darum überall gestritten. Das EU-Budget ist wichtig, weil es Anreize setzt, zusammenzuarbeiten. Und diese Zusammenarbeit vieler Staaten ist häufig effektiver, als es ein einzelnes Land wäre, wie man an EU-Forschungsprojekten oder der Verteidigung sieht.

Wo sehen Sie den größten Reformbedarf in der EU?

Vor allem in der Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik liegen die Mitgliedsstaaten noch weit auseinander. Deshalb wird gerade darüber diskutiert, ob man für die EU-Außenpolitik nicht für einige Fälle eine Mehrheitsabstimmung einführen soll. Denn wenn man Länder wie die USA, China oder Russland betrachtet, dann sieht man, dass die Herausforderungen nicht weniger, sondern mehr werden.

Der Brexit: Glücksfall oder Katastrophe?

Im historischen Kontext ist der Brexit eine Katastrophe. Und die Folgen sind für alle beträchtlich, vor allem für Großbritannien – und es ist nie gut, einen Nachbarn zu haben, der mit erheblichen wirtschaftlichen Schwierigkeiten zu kämpfen hat.

Ein Glücksfall ist der Brexit insofern, als wir in der EU – Stichwort Verteidigungs- und Sicherheitspolitik – einen Blockierer weniger haben. Gleichzeitig war der Brexit ein Weckruf: Die übrigen 27 EU-Staaten haben verstanden, wie wichtig es ist, diese Gemeinschaft mit allen Mühen zu erhalten. Es werden wieder gemeinsame Positionen entwickelt, was zu dem bereits erwähnten Krisen-Reaktionsmuster passt.

Gibt es die Europäische Union in fünf Jahren noch?

Natürlich. Die EU hat zwar viele Schwächen, aber kein politisches System ist vollkommen. Zudem haben die europäischen Mitgliedsstaaten einen ausgesprochenen Problemlösungsinstinkt – und den halte ich weiterhin für sehr stark.

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