Europäische Union Lesezeit 3 Min.

Interview: „Es gibt immer noch zu viel nationales Denken“

Im Konflikt mit Russland zeigt sich die Europäische Union so einig wie lange nicht. Kann sie diese Fähigkeit zum Konsens auch nutzen, um die internationale Wettbewerbsfähigkeit der Staatengemeinschaft zu stärken? Antworten darauf gibt Sandra Parthie, Leiterin des Brüsseler IW-Büros.

Kernaussagen in Kürze:
  • Es gibt immer noch zu viel nationales Denken in den Mitgliedsstaaten, beklagt die Leiterin des Brüsseler IW-Büros, Sandra Parthie.
  • Zwar sei es komplexer und aufwendiger, sich mit anderen Rechtssystemen und Vorgaben auseinanderzusetzen, räumt die Ökonomin im Interview ein, aber nur so könne der Binnenmarkt funktionieren und zu mehr Wohlstand für alle führen.
  • Um die Wettbewerbsfähigkeit der EU zu verbessern, fordert Parthie eine echte Bankenunion, eine verlässliche digitale Infrastruktur und eine funktionierende EU-Verkehrsinfrastruktur.
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Sie leben schon viele Jahre in Brüssel. Wie erleben Sie die Stadt seit dem Krieg in der Ukraine?

Das politische Brüssel war sehr überrascht, das kann man nicht anders sagen. Keiner hatte mit Krieg gerechnet. Dann gab es hier drei Gipfel auf einmal, das hatten wir so noch nie: Die NATO, die G-7 und die europäischen Staats- und Regierungschefs, die sich zwar in unterschiedlichen Runden einander versichert haben, doch sehr unterschiedliche Forderungen formulierten. Polen und Litauen etwa wollten gleich en bloc ein massives Sanktionspaket und allumfassende Unterstützung für die Ukraine. Aber die Außen- und Sicherheitspolitik liegt in nationaler Verantwortung, da muss man sich auf EU-Ebene also zurechtruckeln, um herauszufinden, was man gemeinsam hinbekommen kann und will.

Sandra Parthie ist die Leiterin des IW-Büros in Brüssel; Foto: IW Medien Die EU präsentiert sich derzeit so einig wie lange nicht. Kann dieses Momentum auch dafür genutzt werden, um den Binnenmarkt zu vollenden?

Dafür gab es tatsächlich vor zwei Jahren schon einen wichtigen Push: Corona. Nachdem das Virus ausgebrochen war, folgten geschlossene Grenzen und Exportstopps. Dann kam aber schnell die Erkenntnis: Das geht so nicht, wir können nicht einen EU-Binnenmarkt haben und dann machen wir doch wieder die Grenzen dicht. Das war ein starkes Momentum für den Binnenmarkt. Denn da wurde das erste Mal klar, wie die länderübergreifenden Lieferketten funktionieren und wie wichtig es ist, dass sie nicht abreißen.

Es gibt immer noch zu viel nationales Denken in den Mitgliedsstaaten. Zu wenige Politiker schauen über den Tellerrand und oft wird der Schwarze Peter herumgereicht, statt ein Problem zu lösen.

Jetzt wird aufgrund des Ukraine-Kriegs erneut schmerzlich deutlich, wie extrem die Auswirkungen von Lieferkettenproblemen sind. Daraus müssen wir lernen und Vorkehrungen treffen. Zentral ist dafür, dass wir in Europa eine bessere Übersicht haben, was wir woher beziehen – und ob es Alternativen gibt.

Mit der Wettbewerbsfähigkeit der EU steht es nicht zum Besten, zeigt Ihre IW-Studie. Was ist schiefgelaufen?

Es gibt immer noch zu viel nationales Denken in den Mitgliedsstaaten. Zu wenige Politiker schauen über den Tellerrand und oft wird der Schwarze Peter herumgereicht, statt ein Problem zu lösen.

Natürlich ist es komplexer und aufwendiger, wenn man sich mit anderen Rechtssystemen und Vorgaben auseinandersetzen muss. Aber nur so kann der Binnenmarkt funktionieren und zu mehr Wohlstand für alle führen.

Teils scheitert es da schon am staatlichen Infrastrukturrahmen – es gibt beispielsweise nicht genug Stromleitungen zwischen Spanien und Frankreich, weil die Franzosen keine Windkraft aus Spanien wollen. Akut haben wir große Probleme beim Transport von Flüssiggas, weil es zu wenige Pipelines quer durch die EU gibt.

Bei vielen Dingen stoßen nationale Interessen aufeinander, bei denen die EU nur einen Rahmen bieten kann. Natürlich gibt es europäische Förderprogramme, die genau diesen länderübergreifenden Gedanken pushen, aber viele Themen müssen überhaupt erst mal eine nationale Priorität bekommen, bevor sie international angegangen werden können.

Welche Ansatzpunkte gibt es, um die Situation zu verbessern?

Es gibt drei wirklich grundlegende Dinge: Erstens braucht die EU eine echte Bankenunion, vor allem eine international agierende, ganz normale europäische Geschäftsbank. Zweitens benötigen wir eine verlässliche digitale Infrastruktur – und zwar ohne Funklöcher an der Grenze. Und drittens braucht es eine ganz grundlegende Funktionsfähigkeit in der EU-Verkehrsinfrastruktur, die es erlaubt, Güter ohne Verzögerung über Grenzen zu transportieren – und zwar unabhängig davon, mit welchem Verkehrsmittel.

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