Interview: „Eine Viertagewoche gibt es nicht umsonst“
Marcel Fratzscher ist Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin), Michael Hüther ist Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW). Im Gespräch mit dem iwd diskutieren die beiden Ökonomen die Zukunft der Arbeitswelt – inklusive der jüngsten Forderungen zur Viertagewoche.
- Im iwd-Interview diskutieren Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin), und Michael Hüther, Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW), über die Zukunft der Arbeitswelt.
- Aus Sicht der Ökonomen kann mehr Flexibilität dabei helfen, die drängendsten Probleme auf dem Arbeitsmarkt zu lösen.
- Zudem wird es in ihren Augen zwangsläufig zu Rationalisierungen kommen müssen, wohingegen eine starre Viertagewoche kaum hilfreich wäre.
Herr Fratzscher, was spricht gegen eine Viertagewoche für alle?
Die meisten Beschäftigten, die in Vollzeit arbeiten, wollen weniger Stunden arbeiten. Fast niemand möchte mehr arbeiten. Und fast jeder wünscht sich mehr Flexibilität. Wir brauchen also mehr Flexibilität, aber weder eine fixe Viertagewoche für alle noch angeordnete Mehrarbeit oder andere Korsette.
Herr Hüther, aus welchem triftigen Grund sollte weniger gearbeitet werden?
Wenn die Leute weniger arbeiten wollen, dann ist das Grund genug. Allerdings wird in den Diskussionen eine Münchhausen-Lösung vorgeschlagen: Es wird suggeriert, dass wir weniger arbeiten, aber das Gleiche herausbekommen können.
Doch es gibt nichts umsonst: Wer weniger arbeitet, muss mit weniger Verdienst auskommen – oder belegen, dass seine Leistung entsprechend steigt.
Angesichts der demografischen Entwicklung und der unzureichenden Zuwanderung von Fachkräften ist das Arbeitszeitvolumen aller Erwerbstätigen mittelfristig wohl kaum zu halten. Warum stellen wir uns nicht einfach darauf ein?
Hüther: Das ist ja mein Punkt. Es ist unstrittig, dass es in den vergangenen drei Dekaden nur geringe Produktivitätszuwächse gab. Und das gilt bis heute, obwohl wir mitten in der digitalen Transformation sind. Bereits bis 2030 werden uns jährlich rund 4,2 Milliarden Arbeitsstunden fehlen – trotz Zuwanderung, die wir in den Prognosen unterstellen.
Um das ungehobene Arbeitskräftepotenzial in Deutschland zu heben, müssen den Millionen Beschäftigten, die in Teilzeit arbeiten und gerne mehr arbeiten möchten, die vielen Hürden aus dem Weg geräumt werden.
Doch wie gehen wir damit um? Ein Erwerbstätiger in Vollzeit arbeitet bei uns jährlich etwa 250 Stunden weniger als entsprechende Beschäftigte in der Schweiz. Das Jahresarbeitszeitvolumen ist eines der geringsten weltweit. Dennoch argumentieren Leute, dass wir aus Stressgründen weniger arbeiten sollen? Das kaufe ich nicht. Wir müssten schon gesünder als die meisten sein.
Werden wir irgendwann eine Viertagewoche haben, in der Ämter und Schulen nur noch vier Tage offen haben?
Fratzscher: Ich glaube, wir werden uns eher Richtung angelsächsische Welt bewegen, wo einige Läden auch sonntags offen haben. Wir werden schlicht ein flexibleres System bekommen. Und ich bin mir – anders als Michael Hüther – sicher, dass es kein Nullsummenspiel ist, wenn Menschen weniger arbeiten. Empirische Studien zeigen recht eindeutig, dass eine geringere Arbeitszeit die Produktivität erhöht, Zufriedenheit und Motivation verbessert und zu weniger Krankheitstagen führt. Der Schlüssel ist, den vielen Millionen Beschäftigten – meist Frauen –, die in Teilzeit arbeiten und gerne mehr arbeiten möchten, die vielen Hürden aus dem Weg zu räumen. Dies ist das bei Weitem größte ungehobene Arbeitskräftepotenzial, durch das wir einen erheblichen Teil der Fachkräftelücke schließen könnten.
Hüther: Ja, 13 Prozent der Teilzeitkräfte wollen mehr arbeiten, gegebenenfalls sogar ein höherer Prozentsatz, wenn die Politik keine falschen Anreize setzen würde.
Aber das wird nicht reichen. Es gibt andere Hebel. Bezahlen im Supermarkt geht beispielsweise ohne Personal. Ich will damit sagen: Wir stehen vor einer Welle der Rationalisierung. Aber noch sehen wir nur die Anfänge. Das müssen die Unternehmen in den kommenden Jahren angehen – monotone Arbeit und standardisierte Jobs digitalisieren oder KI-gestützt substituieren.
Fratzscher: Rationalisierung ist durchaus etwas Gutes, auch wenn es oft anders konnotiert ist.
Ich bin allerdings optimistischer als Kollege Hüther, wenn es um die Aktivierung der stillen Reserve geht. Mit deutlich höheren Löhnen, einer besseren Betreuungsinfrastruktur, mehr Wertschätzung und besseren Arbeitsbedingungen haben wir gute Chancen.
Hüther: Stichwort mehr Geld –bei den Löhnen sehen wir gesamtwirtschaftlich seit 2015 eine deutlich positive Lohndrift und in einigen Branchen beachtliche knappheitsbedingte Lohnprämien. Da bekommen qualifizierte Mitarbeiter also deutlich mehr Geld, als ihnen als Tariflohn zustünde.
Aber wenn es nicht genug Arbeitskräfte gibt, dann ist es nur eine Umverteilung von Arbeitskräften von einer Branche in eine andere.
Und noch einmal zur Produktivitätsdiskussion: In der Pflege ist momentan nahezu kein Produktivitätsfortschritt erkennbar und Pflegeroboter stoßen eher auf Widerstand, es ist aber ein massiv höherer Bedarf abzusehen.
Also Pflegekräfte aus dem Ausland anwerben?
Hüther: Ich bin sehr für ein liberales Zuwanderungsrecht. Aber ich habe große Schwierigkeiten damit, dass wir so tun, als sei dies die „silver bullet“ – also die einfache Lösung, die ein so kompliziertes Problem lösen kann. Das ist die Wiederauflage der Gastarbeiterlogik der 1950er Jahre. Damals wurde die Integration nicht geleistet.
Herr Fratzscher, Herr Hüther würde gern die Wochenarbeitszeit heraufsetzen – er hat es bereits angedeutet. Eine gute Idee?
Ich denke, das ist illusorisch und wäre kontraproduktiv. Bei uns ist die Jahresarbeitszeit deshalb geringer als anderswo, weil vor allem so viele Frauen in Teilzeit arbeiten. Das Ehegattensplitting, Minijobs und die kostenfreie Mitversicherung der Partner in der gesetzlichen Krankenversicherung abschaffen – damit gewinnen wir 200 bis 300 Stunden pro Jahr an Arbeitszeit bei den Betroffenen.
Herr Hüther, Herr Fratzscher will die Viertagewoche in Pilotprojekten ausprobieren. Um Unternehmen zum Mitmachen zu animieren, schlägt er Steuerentlastungen oder verringerte Sozialversicherungsbeiträge vor.
Die Idee überzeugt mich nicht. Die Flexibilität für eine Viertagewoche haben Firmen und Mitarbeiter schon jetzt. Ich bin sicher, dass Unternehmen all das für ihre Belegschaften tun, was sie sich im internationalen Wettbewerb leisten können. Da brauchen sie keine staatliche Unterstützung.
John Maynard Keynes prognostizierte vor knapp 100 Jahren für das Jahr 2030 eine tägliche Arbeitszeit von drei Stunden.
Fratzscher: Meine Vermutung, weshalb Keynes mit den drei Stunden täglicher Arbeitszeit im Jahr 2030 falsch lag, ist: Arbeit stiftet Menschen einen Sinn im Leben. Und sie schafft Wohlstand, bei dem es Menschen wichtig ist, dass sie nicht weniger haben als der Nachbar.
Dennoch: Der Trend hin zu weniger Zeit im Job ist da, die meisten Menschen wünschen sich mehr Zeit für sich und ihre Familie. Studien zeigen auch, dass sich Menschen mit mehr Freizeit oft stärker ehrenamtlich engagieren. Was wir gern vergessen: Arbeit heißt nicht nur bezahlte Arbeit. Wir müssen deshalb weg vom Credo, dass nur bezahlte Arbeit gute Arbeit ist.