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Interview: „Die Rezession hat keine rein ökonomischen Ursachen“

Große Teile der deutschen Industrie stehen angesichts gestiegener Energie- und Produktionskosten unter Druck. Das Wachstumschancengesetz sei zwar ein wichtiges Signal, reiche aber nicht aus, sagt IW-Konjunkturforscher Michael Grömling. Seiner Meinung nach helfen ökonomische Lösungen allein nur zum Teil, um die gegenwärtigen Herausforderungen zu meistern.

Kernaussagen in Kürze:
  • „Die deutsche Industrie leidet, wie viele andere Volkswirtschaften auch, unter multiplen Schocks. Diese außergewöhnlichen Ereignisse gehen mit neuen Verunsicherungen, aber auch strukturellen Anpassungen einher“, sagt IW-Konjunkturforscher Michael Grömling.
  • Anders als in früheren Rezessionsphasen habe die gegenwärtige Krise keine rein ökonomische Ursachen, denen man auch konjunkturpolitisch entgegentreten könne, so Grömling.
  • Deshalb hilft der heimischen Industrie nach Auffassung des Konjunkturexperten in erster Linie nur eins: „Dass die externen Schocks nachlassen.“
Zur detaillierten Fassung

Das Gros der deutschen Industrieunternehmen steckt in der Krise. Wäre das bei einer vorausschauenden Unternehmenslenkung – zum Beispiel einer breiteren Lieferantendiversifizierung oder dem zügigeren Umbau zu mehr Energieeffizienz – vermeidbar gewesen?

Die deutsche Industrie leidet, wie viele andere Volkswirtschaften auch, unter multiplen Schocks. Natürlich kann man im Nachhinein immer schlauer sein und sagen, man hätte einen Krieg oder eine Pandemie vorhersehen und einplanen können. Aber die meisten sehen dies alles als außergewöhnliche Ereignisse.

Das, was wir derzeit erleben, ist keine Rezession, die rein ökonomische Ursachen hat und der man sich auch konjunkturpolitisch stellen kann. Die deutsche Industrie wird erst dann aus der Krise kommen, wenn die externen Schocks nachlassen.

Michael Grömling ist Leiter des IW-Clusters Makroökonomie und Konjunktur; Foto: IW Medien Diese Ereignisse betreffen die Unternehmen auf viele Arten: Die Liefer- und Materialengpässe, die massiven Störungen in der globalen Logistik mit Containerschiffen, die über Monate irgendwo standen, wo sie nicht hingehörten, die Folgen des Ukraine-Kriegs – all das sind bislang eher unvorstellbare Schocks, bei denen auch eine größere Diversifikation von Lieferketten möglicherweise wenig geholfen hätte.

Warum trifft der Anstieg der Energiepreise gerade die deutsche Wirtschaft so hart?

Weil sie energieintensiv produziert. Viele Produktionsprozesse der Industriefirmen sind erheblich energieintensiver als jene in der Dienstleistungsökonomie. Deutschland hat traditionell einen hohen Industrieanteil, deshalb treffen uns die gestiegenen Energiepreise auch gesamtwirtschaftlich stärker als andere Länder mit weniger Industrieunternehmen.

Was passiert, wenn die Produktionskosten auch in den kommenden Jahren so hoch bleiben?

Die Frage ist, in welchem Umfang die höheren Kosten an die Kunden im In- und Ausland weitergereicht werden können. Hier wird sich im internationalen Vergleich zeigen, inwieweit Deutschland bleibende preisliche Wettbewerbsnachteile hat. Wenn der Kunde das Produkt zu einem höheren Preis trotz hoher Qualität nicht kauft, werden die hohen Produktionskosten langfristig dazu führen, dass die Unternehmen ihre Kapazitäten im Inland anpassen müssen.

Haben die ausländischen Konkurrenten nicht genau dieselben Probleme?

Zum Teil, denn die Länder haben ganz unterschiedliche Energiestrukturen und Energiekosten. Frankreich und Schweden haben hohe Anteile von Atomstrom im Energiemix, die Niederländer und Briten können einen Teil ihrer Energienachfrage aus heimischen Gasfeldern decken. All das hat Deutschland nicht oder nicht mehr. Kohle und Atomenergie sollen aus politischen Gründen nicht mehr genutzt werden. Trotz wachsender Bedeutung alternativer Energiequellen sind Deutschlands Abhängigkeiten derzeit größer und damit sind die Anpassungslasten für die heimischen Unternehmen, die viel Energie benötigen, ebenfalls größer.

Mit der Pharma- sowie der Elektroindustrie gibt es auch Branchen in Deutschland, die nicht in der Krise stecken. Was machen diese anders?

Bei der Pharmaindustrie ist der Erfolg auch auf die Pandemie zurückzuführen. Deutsche Pharmaunternehmen haben neue Impfstoffe entwickelt und produziert – nicht nur für uns alleine, sondern zum Wohl der Weltbevölkerung.

Die Elektroindustrie hatte eine Sonderkonjunktur im Gefolge der Pandemie, weil plötzlich viele Beschäftigte im Homeoffice gearbeitet haben und neue Elektrogüter brauchten. Unternehmen müssen heute stärker in Cybersecurity und entsprechende Technologien investieren. Allgemein profitiert die Branche von der fortschreitenden Digitalisierung.

Wie kommt die Industrie aus der Krise?

Indem die externen Schocks nachlassen. Der Ukraine-Krieg ist ein politischer Schock, den wir nicht selbst in der Hand haben, sondern der politisch und diplomatisch gelöst werden muss. Das Gleiche galt für die Pandemie: Das war kein Ereignis, das allein ökonomisch lösbar war, sondern man musste auf einen Impfstoff und die Impfbereitschaft der Bevölkerung hoffen, damit Lockdowns, Betriebs- und Schulschließungen sowie Reisebeschränkungen zurückgenommen werden konnten.

Starrere globale Rahmenbedingungen

Wir haben uns derzeit in ein geoökonomisches Umfeld einzufügen, das neu ist. Viele Jahrzehnte wurde die Welt offener: Grenzen fielen, der europäische Binnenmarkt wurde weiterentwickelt, große Schwellenländer wurden in die Weltwirtschaft integriert. Das alles war für unser weltoffenes Wirtschaftsmodell gut. Doch jetzt sehen wir seit geraumer Zeit eine gegenläufige Entwicklung, die nicht erst mit dem Ausbruch des Ukraine-Kriegs begonnen hat: der Brexit, die US-Wahl 2016, die politische Positionierung von großen Schwellenländern wie China. Das macht es für deutsche Industrieunternehmen, für die schon seit langer Zeit der Weltmarkt der relevante Markt ist, erheblich schwieriger, zurechtzukommen und sich neu aufzustellen. Den starrer werdenden globalen Rahmenbedingungen müssen wir uns anpassen, nur teilweise können wir sie mitgestalten.

Kann das Wachstumschancengesetz der deutschen Wirtschaft helfen?

Es setzt ein richtiges Signal, nämlich dass die Regierung überhaupt die wirtschaftliche Entwicklung in den Blick nimmt. Um die internationale Wettbewerbsfähigkeit und Flexibilität ausreichend zu stärken, ist das zu wenig.

Rezessionen gehören zur Konjunktur genauso dazu wie Wachstumsphasen. Haben wir einfach nur verlernt, solche Perioden durchzustehen?

Die Industrie bewegt sich seit 2019 abwärts. Das ist historisch betrachtet schon eine bemerkenswert lange Zeit: Wir befinden uns in einer der längsten Industrieflauten der vergangenen 70 Jahre.

Die bereits erwähnten außergewöhnlichen Ereignisse wie die Pandemie und der Krieg in Europa gehen mit neuen Verunsicherungen, aber auch strukturellen Anpassungen einher. Das, was wir derzeit erleben, ist keine Rezession, die rein ökonomische Ursachen hat und der man sich auch konjunkturpolitisch stellen kann. Sondern es sind Ereignisse, deren Lösung wir nicht selbst in der Hand haben. Und das macht die gegenwärtige Lage zu etwas Besonderem.

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