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Interview: „Die EZB hat zu spät reagiert“

Die Inflationsraten in der Eurozone sind so hoch wie noch nie. Deshalb hat die Europäische Zentralbank (EZB) begonnen, den Leitzins zu erhöhen. Gleichwohl werden wir noch einige Zeit mit hohen Inflationsraten leben müssen, sagt Ulrike Neyer, Professorin für Volkswirtschaftslehre an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.

Kernaussagen in Kürze:
  • Kurzfristig kann die Europäische Zentralbank die Inflationsrate nicht nach unten drücken, sagt Ulrike Neyer, VWL-Professorin an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Die Erhöhung des Leitzinses bringe in puncto Inflationsbekämpfung zwar schon etwas, sie wirke allerdings erst mittelfristig.
  • Erschwerend hinzu kommt, dass die EZB sich in ihrer Geldpolitik an der Inflationsrate der Eurozone orientiert. Dabei bräuchte beispielsweise Estland aktuell einen deutlich höheren Leitzins als Frankreich, so Neyer.
  • Die Volkswirtin plädiert außerdem dafür, den Leitzins nur mit Augenmaß zu erhöhen, um die wirtschaftliche Entwicklung in den Euroländern nicht abzuwürgen.
Zur detaillierten Fassung

Die extrem hohen Inflationsraten in der Eurozone sind vornehmlich dem Mangel geschuldet: an Gas und anderen Energieträgern, an Vorprodukten aufgrund gestörter Lieferketten und nicht zuletzt an Fachkräften, die vor allem in Deutschland fehlen. Da kann die Europäische Zentralbank mit einem höheren Leitzins doch nur wenig ausrichten, oder?

Die Erhöhung des Leitzinses bringt in puncto Inflationsbekämpfung schon etwas, sie wirkt allerdings erst mittelfristig. Kurzfristig kann die EZB die Inflationsrate nicht nach unten drücken. Wir müssen also davon ausgehen, dass die Inflationsrate in den nächsten Monaten noch relativ hoch bleibt.

Wenn sich die Energiepreise stabilisieren, wird die Inflationsrate im kommenden Jahr wieder sinken.

Das liegt auch daran, dass wir für die Berechnung der Inflationsrate aktuell Preise vergleichen mit Preisen von vor einem Jahr, als die Energiepreise noch relativ niedrig waren. Da die Energiepreise aller Wahrscheinlichkeit nach nicht massiv sinken werden, werden sich die Preise im Zwölfmonatsvergleich erst im kommenden Jahr wieder annähern – und dann wird auch die Inflation gebremst. Entscheidend ist also, wie sich die Energiepreise entwickeln: Stabilisieren sie sich, wird die Inflationsrate wieder sinken.

Was hält die EZB davon ab, den Leitzins einfach auf 10 Prozent zu erhöhen?

Die Europäische Zentralbank sollte die Zinsen nicht abrupt anheben, sondern besser mit Augenmaß weiter erhöhen, um den Rückgang der wirtschaftlichen Aktivitäten, also des Bruttoinlandsprodukts, in Grenzen zu halten. Für weitere Erhöhungen mit Augenmaß gibt es drei Gründe: Zum Ersten betreibt die EZB ja immer noch eine expansive Geldpolitik – die Zinsen sind ja nach wie vor relativ niedrig, sie wirken noch stimulierend auf die Nachfrage, während das Angebot beschränkt ist. Und das wiederum treibt die Preise noch nach oben.

Ulrike Neyer ist Professorin für Volkswirtschaftslehre an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf; Foto: Horn, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf Zweitens wird die Inflation angetrieben, weil Waren, die wir aus den USA importieren, teurer werden. Denn die amerikanische Zentralbank hat die Zinsen schon früher und stärker erhöht als die EZB. Deswegen kaufen Anleger eher amerikanische Anleihen, es werden also Dollar nachgefragt. Folglich wertet der Dollar auf und der Euro wertet ihm gegenüber weiter ab. Dadurch werden Güter wie beispielsweise Erdöl, die importiert werden müssen, weiter teurer – und das trägt ebenfalls zur steigenden Inflation bei. Um diese importierte Inflation einzudämmen, sind also weitere Zinserhöhungen der EZB nötig.

Und der dritte Punkt, warum die Zinsen steigen sollten, ist, dass die Inflationserwartungen stabilisiert werden müssen. Die EZB muss signalisieren, dass die Inflationsbekämpfung wirklich ihr oberstes Ziel ist.

Für das kommende Jahr sagen die Konjunkturprognosen für viele Länder eine Rezession voraus, auch für Deutschland. Was bedeutet das für die EZB?

Wir erwarten für den Euroraum im kommenden Jahr eine wirtschaftliche Abkühlung, in Deutschland wird der Abschwung am größten ausfallen. Wenn die EZB nun massiv die Zinsen erhöhen würde, würde dieser Effekt noch verstärkt werden. Schon jetzt geht das reale Einkommen der Menschen und damit deren Nachfrage zurück, das reduziert den Druck auf die Preise bereits.

Die Inflationsraten in der Eurozone sind extrem unterschiedlich – rund 6 Prozent in Frankreich, mehr als 24 Prozent in Estland. Kann die Geldpolitik der EZB diesen gravierenden Unterschieden überhaupt gerecht werden?

Das ist schwierig. Deshalb orientiert sich die EZB an der durchschnittlichen Inflationsrate der Eurozone. Das wird allerdings umso problematischer, je weiter die Inflationsraten der Euroländer auseinanderliegen. Die durchschnittliche Inflationsrate der Eurozone liegt im Moment bei rund 10 Prozent und an diesem Durchschnittswert orientiert sich die EZB, obwohl Estland höhere Leitzinsen bräuchte als Frankreich.

In Deutschland beträgt die Inflationsrate rund 10 Prozent, in den laufenden Tarifverhandlungen ist nur noch selten von Lohnzurückhaltung die Rede. Droht uns eine Lohn-Preis-Spirale?

Im Moment ist das nicht zu befürchten. Die Löhne werden steigen, ja, aber eine Gefahr der massiven Steigerung des Lohnniveaus, die zu exorbitant höheren Produktionskosten und damit wiederum zu erneut steigenden Verbraucherpreisen führt, sehe ich aktuell nicht.

Die Bundesregierung gibt sehr viel Geld aus, um die Bürgerinnen und Bürger zu entlasten. Sollte sie, statt die Symptome der Krise zu behandeln, nicht lieber an die Ursachen ran? Also beispielsweise die erneuerbaren Energien schnellstmöglich ausbauen und neue Lieferländer für kritische Rohstoffe suchen?

Ja! Mein Problem mit den ganzen Entlastungspaketen ist, dass sie zum großen Teil nicht zielgenau sind. Es sollten nur die Haushalte finanziell entlastet werden, die die aktuellen Preissteigerungen nicht selbst tragen können. Hier wären Direktzahlungen sinniger. Im neuen Gutachten des Sachverständigenrats gibt es eine schöne Grafik, die zeigt, wie stark die unterschiedlichen Haushaltstypen von der Inflation betroffen sind. Da sieht man sehr gut, dass Haushalte mit einem geringen Einkommen eine höhere Inflationsrate haben als solche mit einem relativ hohen Einkommen. Das liegt einfach daran, dass Einkommensschwächere einen größeren Anteil ihres Budgets für Lebensmittel, Miete und Energie aufwenden müssen als wohlhabendere Menschen – und genau diese Waren und Güter sind besonders teuer geworden.

Gibt es aus Ihrer Sicht ein Land in Europa, das aktuell eine bessere Inflationspolitik hinbekommt als Deutschland?

Die Geldpolitik ist ja für alle 19 Länder der Eurozone gleich, weil die EZB für deren Preisstabilität zu sorgen hat. Die EZB hat zwar zu spät reagiert, aber jetzt ist sie ja mit den Zinserhöhungen auf dem richtigen Weg.

Ein Land, das schon recht früh einen Gaspreisdeckel zur Stromerzeugung eingeführt hat, ist Spanien. Auch Frankreich hat seine Bürger früher und stärker entlastet als Deutschland. Aber dabei werden Preissignale außer Kraft gesetzt und gerade in Spanien hat das dazu geführt, dass die Knappheitsverhältnisse nicht mehr gesehen wurden und der Gasverbrauch zur Stromerzeugung sogar angestiegen ist.

Ich wüsste also kein Land, das die Bekämpfung der Inflation deutlich besser als Deutschland hinbekommen hat.

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