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Wahlen in Ungarn: Eine wegweisende Parlamentswahl

Am 3. April wählen die Ungarn die 199 Abgeordneten ihres Parlaments neu. Die größten Oppositions- und mehrere Splitterparteien haben sich im Vorfeld zusammengeschlossen, um bessere Chancen gegen die amtierende Regierung zu haben. Deren Politik spaltet das Land und führt auch in der Europäischen Union zu Widerstand.

Kernaussagen in Kürze:
  • In Ungarn hoffen die größten Oppositions- und mehrere Splitterparteien bei der Parlamentswahl am 3. April, die Regierung abzulösen.
  • Die Koalition aus Fidesz und KDNP um Premier Viktor Orbán hat seit 2010 viele demokratischen Errungenschaften untergraben.
  • Gleichwohl steht das Land zum Beispiel mit Blick auf Staatsverschuldung und Arbeitslosigkeit verhältnismäßig gut da.
Zur detaillierten Fassung

Wenn sich Parteien des gesamten politischen Spektrums – von rechtskonservativ über grün bis links – zusammenschließen, muss die Verzweiflung groß sein. In Ungarn ist das bereits 2019 bei den Kommunalwahlen geschehen. Dadurch war es der Opposition möglich, die Bürgermeisterämter der ungarischen Hauptstadt Budapest sowie weiterer Städte des Landes zu gewinnen und so den Regierungsparteien Fidesz und KDNP Paroli zu bieten.

Nun will die Opposition bei der Parlamentswahl mit dem gleichen Konzept erfolgreich sein: In jedem der landesweit 106 Wahlkreise stellt sie nur einen gemeinsamen Kandidaten auf und hat sich zudem in Vorwahlen auf einen Bewerber für das Amt des Premierministers geeinigt: Der 49-jährige Péter Márki-Zay soll den amtierenden Regierungschef Viktor Orbán beerben. Der ist seit 2010 an der Macht und errang mit seinem Bündnis aus Fidesz- und KDNP-Partei 2018 sogar knapp die Zweidrittelmehrheit.

Die Rechtsstaatlichkeit in Ungarn ist in Gefahr, Korruption ein wachsendes Problem, doch der Wirtschaft geht es kurz vor den Parlamentswahlen verhältnismäßig gut.

Seit 2010 hat die ungarische Regierung viele demokratische Errungenschaften in Ungarn untergraben. So ist das Verfassungsgericht mittlerweile mit regierungsfreundlichen Richtern besetzt, freien Medien wird das Leben schwer gemacht und die Hürden, um bei politischen Wahlen antreten zu können, wurden merklich erhöht. Im Jahr 2017 hat die Regierung außerdem die Central European University, die Anfang der 1990er Jahre vom ungarischen Milliardär George Soros in Budapest gegründet wurde, mit wissenschaftsfeindlichen Gesetzen aus dem Land gedrängt. In Ungarn grassiert zudem die Bestechlichkeit:

Im Korruptionswahrnehmungsindex von Transparency International belegt Ungarn mittlerweile nur noch Rang 73 von 180 mit lediglich 43 von 100 möglichen Punkten. Im Jahr 2012 hatte der Staat noch 55 Punkte erhalten.

Zum Vergleich: Deutschland belegt mit 80 Punkten Rang zehn und Staaten wie Ruanda (Platz 52) oder Kuba (Platz 64) schneiden mittlerweile besser ab als Ungarn.

Rechtsstaatsmechanismus der EU als Druckmittel

Gerade in der aktuellen Situation, in der die Welt gebannt Richtung Russland schaut und sich fragt, wie es dort so weit kommen konnte, zeigen sich frappierende Parallelen zum demokratiefeindlichen Handeln der ungarischen Regierung. Allerdings ist sich die Europäische Union des Problems in ihrer Mitte bewusst: Ende 2020 hat sie sich auf den neuen Rechtsstaatsmechanismus verständigt, der es der EU erlaubt, einem Mitgliedsstaat finanzielle Mittel zu kürzen, wenn er die Rechtsstaatlichkeit untergräbt. Ungarn klagte deshalb gemeinsam mit Polen, dessen Regierung seit einiger Zeit ebenfalls nicht sonderlich demokratisch unterwegs ist, vorm Europäischen Gerichtshof, scheiterte Mitte Februar dieses Jahres jedoch krachend.

Tatsächlich ist das EU-Geld die Stelle, an der die Regierung Orbán empfindlich zu treffen ist: 2020 flossen netto rund 5 Milliarden Euro an EU-Geldern nach Ungarn – ein beträchtlicher Batzen verglichen mit dem Bruttoinlandsprodukt Ungarns in Höhe von 137 Milliarden Euro im selben Jahr.

Trotz der demokratiefeindlichen Tendenzen der Regierung genießt diese – gerade auf dem Land und unter älteren Bürgern – viel Rückhalt. Ein Grund dafür ist, dass die Wirtschaft gut läuft (Grafik):

Die Arbeitslosenquote in Ungarn lag 2021 bei 4,1 Prozent gegenüber 7,2 Prozent im EU-Durchschnitt.

Daten zum Bruttoinlandsprodukt, zu den Verbraucherpreisen, der Arbeitslosenquote und der Leistungsbilanz von Ungarn Download: Grafik (JPG) herunterladen Grafik (EPS) herunterladen Tabelle (XLSX) herunterladen

Mit Blick auf die Staatsverschuldung steht das Land momentan ebenfalls verhältnismäßig gut da (Grafik):

Der Bruttoschuldenstand Ungarns betrug 2020 rund 80 Prozent des BIP, im EU-Schnitt lag er bei etwa 90 Prozent. Allerdings ist die Neuverschuldung Ungarns am aktuellen Rand durchweg höher als im EU-Vergleich.

Schuldenstand und Saldo des Staatshaushalts in Prozent des Bruttoinlandsprodukts Download: Grafik (JPG) herunterladen Grafik (EPS) herunterladen Tabelle (XLSX) herunterladen

Gleichzeitig konnte Ungarn in den vergangenen Jahren aber das Bruttoinlandsprodukt je Einwohner sukzessive dem EU-Schnitt annähern. Aktuell erreicht es rund 74 Prozent des EU-Werts.

Vier Referenden parallel zur Wahl

Es ist also keineswegs ausgemacht, wer die Wahlen im April gewinnt. Und auch nicht, wie sich die Bürger bei jenen vier Referenden entscheiden, über die sie parallel zur Wahl abstimmen sollen. Alle vier betreffen das umstrittene „Kinderschutzgesetz“, das im Juni 2021 von Ungarns Parlament verabschiedet wurde. In diesem Gesetz geht es unter anderem darum, dass im Schulunterricht nicht mehr über Homo- und Transsexualität informiert werden darf.

Ohnehin haben es Minderheiten in Ungarn unter der amtierenden Regierung immer schwerer, was auch von Amnesty International beklagt wird. Die Organisation sieht Parallelen zum russischen „Propagandagesetz“ von 2013, mit dem die Arbeit für die Rechte der LGBTQ+-Community erheblich eingeschränkt wurde. Mittlerweile weiß man, dass dieses Gesetz in Russland nur der Anfang einer systematischen Gleichschaltung und Entdemokratisierung war.

Auch deshalb dürfte die Wahl in Ungarn nicht nur für das Land selbst wegweisend sein, sondern für Europa insgesamt.

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