Interview Lesezeit 6 Min.

„Die Respekt-Rente ist nicht treffsicher“

Der Gedanke, die sogenannte Lebensleistung in der Rentenversicherung zu berücksichtigen und aufzuwerten, liegt schon eine ganze Weile auf dem Tisch. Das Vorhaben wurde bereits im Koalitionsvertrag verankert und nun hat Bundesarbeitsminister Hubertus Heil seine Variante vorgestellt: die Respekt-Rente. Ein Gespräch mit Jochen Pimpertz, Leiter des Kompetenzfelds „Öffentliche Finanzen, Soziale Sicherung, Verteilung“ im Institut der deutschen Wirtschaft, über Gerechtigkeitsfragen in der Rente und bessere Wege zum Ziel.

Kernaussagen in Kürze:
  • Das von Bundesarbeitsminister Hubertus Heil vorgelegte Konzept für eine „Respekt-Rente“, die lebenslanges Arbeiten honorieren soll, weicht in einigen Punkten vom Koalitionsvertrag ab – vor allem der Verzicht auf eine Bedürftigkeitsprüfung ist umstritten.
  • Diesen Punkt kritisiert auch IW-Rentenexperte Jochen Pimpertz. Er sagt, nur wer bedürftig sei, solle staatliche Hilfe bekommen.
  • Zudem seien 35 Beitragsjahre eine willkürliche Grenze für den Anspruch auf eine Grundrente – Menschen mit gebrochenen Erwerbsbiografien würden dadurch erst recht dem vermeintlichen Stigma der Grundsicherung ausgesetzt.
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Lebensleistungsrente, Solidarrente – das Kind hatte schon viele Namen. Was unter scheidet die „Respekt-Rente“ von ihren Vorgängermodellen?

Im Koalitionsvertrag der Groko ist eine Grundrente für Menschen vorgesehen, die mindestens 35 Beitragsjahre vorzuweisen haben. Diese Menschen sollen künftig 10 Prozent mehr als die Grundsicherung bekommen – vorausgesetzt, sie sind bedürftig. Dahinter steckt die Idee, dass es sich auch im Alter auszahlen soll, wenn jemand ein Leben lang gearbeitet hat.

Der aktuelle Vorschlag des Bundesarbeitsministers weicht von der Koalitionsvereinbarung ab: in einigen Details – und in einem entscheidenden Punkt. Zum einen knüpft Heil mit seiner Respekt-Rente an den Entgeltpunkten an. Für alle, die in ihren 35 oder mehr Arbeitsjahren im Schnitt weniger als 80 Prozent des Durchschnittseinkommens verdient haben, sollen die Entgeltpunkte verdoppelt werden – allerdings maximal bis auf einen Rentenanspruch, der sich bei einem durchgängigen Verdienst von 80 Prozent des Durchschnittsentgelts ergibt, einschließlich Zeiten der Kindererziehung und Pflege von Angehörigen. Entscheidend ist jedoch, dass dies nicht mehr an die Überprüfung der Bedürftigkeit gekoppelt sein soll. Und genau hier liegt das Problem.

Warum? Hat nicht gerade das etwas mit dem Respekt vor individueller Lebensleistung zu tun?

Ich stoße mich an zwei Dingen: Zum einen soll die Respekt-Rente aus Steuermitteln finanziert werden. Da Haushaltsmittel nicht beliebig vermehrbar sind, hat die Gesellschaft ein berechtigtes Interesse, dass Umverteilung treffsicher organisiert wird. Von der SPD-Respekt-Rente profitieren Arbeitnehmer aber unabhängig davon, ob sie im Alter über ihren Partner mitversorgt sind oder nicht. Bei der Bedürftigkeitsprüfung geht es genau um diesen Haushaltskontext. Sie gewährleistet eine treffsichere Hilfe und schützt den Steuerzahler vor unnötiger Inanspruchnahme.

Jochen Pimpertz ist Leiter des Kompetenzfelds „Öffentliche Finanzen, soziale Sicherung, Verteilung“ im Institut der deutschen Wirtschaft / Foto: Matthias Ritters, IW So denkt sicher auch jedes frischgebackene Ehepaar. Wenn dann aber doch die Trennung kommt, steht oftmals ein Partner mit leeren Händen da.

Der Gesetzgeber hat den Versorgungsausgleich für geschiedene Eheleute geregelt – das betrifft auch die Rentenanwartschaften. Durch das Rentensplitting bekommen beide Ehepartner die gemeinschaftlich erwirtschafteten Rentenanwartschaften je zur Hälfte. Dass Ehen heutzutage de facto seltener für die Ewigkeit geschlossen werden, ist also kein Grund, auf die Bedürftigkeitsprüfung zu verzichten. Es bleibt dabei: Wer staatliche Hilfe braucht, soll sie bekommen – wer nicht, der nicht.

Und Ihr zweiter Einwand gegen den Verzicht auf die Bedürftigkeitsprüfung?

Mich stört, dass die Grundsicherung dadurch erst recht stigmatisiert wird. In der Argumentation pro Respekt-Rente schwingt ja mit, dass eine Bedürftigkeitsprüfung unzumutbar ist. Das kann ich grundsätzlich nachempfinden, ich möchte Armut im Alter nicht bagatellisieren. Doch tatsächlich verschärft die selektive Handhabung der Respekt-Rente dieses Stigma.

Die selektive Handhabung der Respekt-Rente verschärft das Stigma der Grundsicherung.

Denn während Rentner, die 35 Beitragsjahre aufweisen, ihre Einkommens- und Vermögensverhältnisse nicht offenlegen müssen, werden all jene weiterhin einer Bedürftigkeitsprüfung unterzogen, die auf weniger Beitragsjahre kommen – und sei es nur ein einziges. Im Zweifel müssen in diesen Fällen Familienangehörige einspringen und/oder das Vermögen muss zunächst aufgezehrt werden, ehe steuerfinanzierte Hilfen fließen.

Dann sollte die Bedürftigkeitsprüfung vielleicht für alle abgeschafft werden.

Im rheinischen Karneval singen die Jecken „Wer soll das bezahlen?“ – und das zu Recht. Der Staat schuldet den Steuerzahlern die Bedürftigkeitsprüfung. Aber sie sollte so organisiert sein, dass sie die Betroffenen weder stigmatisiert noch Bedürftige aus Scham daran hindert, notwendige Hilfen zu beantragen. Das wird bislang gar nicht diskutiert, das Problem der verschämten Armut bleibt auch mit der Respekt-Rente ungelöst.

Der Staat schuldet den Steuerzahlern die Bedürftigkeitsprüfung.

Können Sie sagen, wie viele Versicherte Anspruch auf die Grundrente hätten und wie viele leer ausgingen?

Das Konzept des Bundesarbeitsministers ist noch nicht vollständig ausbuchstabiert. Auf der Grundlage des aktuellen Rentenversicherungsbericht schätze ich, dass derzeit rund 2,8 Millionen Renten vom SPD-Modell profitieren würden. Weitere 3,2 Millionen Renten, die im Jahresdurchschnitt auf weniger als 0,8 Entgeltpunkte kommen, würden dagegen nicht aufgestockt, weil mindestens ein Beitragsjahr fehlt.

Genau lässt es sich aber leider nicht sagen, weil in die Statistik der Beitragsjahre auch beitragsfreie Anrechnungszeiten einfließen, der Bundesarbeitsminister aber noch nicht gesagt hat, in welchem Umfang beispielsweise Ausbildungszeiten für den Grundrentenanspruch mitzählen. Außerdem sagen die aktuellen Zahlen noch nichts über die künftige Entwicklung und Verteilung der Rentenansprüche. Immerhin vermitteln sie aber ein Gefühl für die Größenordnung – Hubertus Heil spricht von drei bis vier Millionen Begünstigten.

Aber ist es nicht trotzdem sinnvoll, Menschen, die sehr lange Jahre gearbeitet haben, das Gefühl zu geben, dass dieser Einsatz honoriert wird? Es würde für Frauen auch den Anreiz erhöhen, die beruflichen Auszeiten möglichst kurz zu halten.

Diese Entscheidung muss letztlich die Politik treffen. Sie darf dabei aber nicht übersehen, dass eine vermeintlich leistungsgerechte Grundrente im Konflikt zum Kriterium der Bedarfsgerechtigkeit steht. Wer bestimmte Rentenfälle privilegiert, der muss sich damit auseinandersetzen, dass zwei gleichermaßen bedürftige Menschen materiell unterschiedlich abgesichert werden.

Dass Frauen möglicherweise weniger berufliche Auszeiten nehmen, halte ich für nicht wahrscheinlich. Es kann nämlich auch der umgekehrte Effekt eintreten: Die Respekt-Rente setzt womöglich einen Anreiz für Niedrigverdiener, in Teilzeit zu verharren, um die steuerfinanzierte Aufstockung nicht zu verlieren. Insgesamt dürften Fälle, in denen solche Abwägungen stattfinden, aber eher selten sein.

Merkwürdig finde ich, dass in Zeiten, in denen sich Politiker für eine längere Lebensarbeitszeit stark machen, jetzt auf einmal 35 Jahre als ‚lebenslanges Arbeiten‘ gelten.

Merkwürdig finde ich allerdings, dass in Zeiten, in denen sich Politiker für eine längere Lebensarbeitszeit stark machen, jetzt auf einmal 35 Jahre als „lebenslanges Arbeiten“ gelten – nach meinem Verständnis kommen 40 oder 45 Jahre diesem Anspruch näher.

Wir halten fest: Die SPD möchte wie die Groko lebenslanges Arbeiten auch im Alter honorieren, ist bei der Umsetzung aber über das Ziel hinausgeschossen. Wie können wir das alles besser hinbekommen?

Wenn die Bundesregierung schon eine Aufstockung niedriger Renten organisieren will, um der Lebensleistung Rechnung zu tragen, dann würde es reichen, einen Freibetrag in der Grundsicherung im Alter einzuräumen.

Was heißt das genau?

Bislang wird die gesetzliche Rente vollständig mit der Grundsicherung verrechnet – 1 Euro mehr Rente hat 1 Euro weniger steuerfinanzierte Hilfe zur Folge. Stellt man bei dieser Anrechnung einen gewissen Betrag frei, dann erhielte ein bedürftiger Rentner den vollen Regelsatz und zumindest einen Teil seiner gesetzlichen Rente.

Etwas ähnliches ist zwar auch im Konzept der Respekt-Rente à la SPD vorgesehen, wenn die Grundrente in bestimmten Lebenssituationen unter dem Grundsicherungsniveau liegt – aber eben erst nach mindestens 35 Beitragsjahren. Ein Viertel der gesetzlichen Rente soll dann unangetastet bleiben, höchstens aber 106 Euro. Ich meine: Wenn überhaupt, dann sollte dieser Freibetrag für alle Bedürftigen gelten. Das aber setzt eine Bedürftigkeitsprüfung voraus.

Noch ein Wort zu den Kosten: Können Sie abschätzen, was mit den Heil'schen Plänen auf den Steuerzahler zukommen würde? Und halten Sie das Geld für sinnvoll angelegt?

Der Bundesarbeitsminister schätzt die Ausgaben auf 5 bis 6 Milliarden Euro. Ob diese Summe gut angelegt ist oder nicht, ist eine Frage der politischen Prioritäten. Ich halte es für sinnvoll, kluge Maßnahmen für bedürftige Ältere zu konzipieren. Diese sollten aber treffsicher wirken. Darauf zielt meine Kritik an der SPD-Respekt-Rente.

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