„Die EU wird sich nicht auf Mays Plan einlassen“
Das Vereinigte Königreich hat nach langem Ringen erstmals konkrete Vorschläge zum Austritt aus der EU gemacht. Im iwd-Interview wirft Jürgen Matthes, Auslandsexperte des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW), einen genauen Blick auf den Plan von Ministerpräsidentin Theresa May.
- Premierministerin Theresa May hat erstmals konkrete Pläne zum Brexit vorgelegt. Ihr ist es gelungen, ihr neues Kabinett auf eine klare Linie einzuschwören, mit der sie in die Verhandlungen gehen kann, sagt IW-Auslandsexperte Jürgen Matthes.
- Die in den Plänen enthaltene Differenzierung zwischen Warenverkehr und Dienstleistungen habe das IW bereits 2016 vorgeschlagen. Dass die EU den britischen Plänen zustimmt, erwartet Matthes allerdings nicht.
- Aus EU-Sicht sei die Einrichtung einer Brexit Task Force unter Michel Barnier als verlängertem Arm der 27 Mitgliedsstaaten ein kluger Schachzug gewesen. Die EU sieht Matthes durch ihre Einigkeit in einer guten Verhandlungsposition.
Theresa May hat vergangene Woche einen detaillierten Plan für den Brexit vorgelegt. Inwieweit beeinflusst das die Verhandlungen zwischen Großbritannien und der EU?
Das ist jetzt die Verhandlungsgrundlage, auf die die Europäische Union fast eineinhalb Jahre gewartet hat. Das Weißbuch spiegelt dabei natürlich die britische Position wider, die EU hat in einigen Bereichen einen anderen Standpunkt. Theresa May ist es aber gelungen, auch auf Kosten von zwei Ministerrücktritten, ihr neues Kabinett auf eine klare Linie einzuschwören, mit der sie in die Verhandlungen gehen kann. Das ist ein entscheidender Fortschritt.
May schlägt ein Freihandelsabkommen mit der EU vor, will dabei allerdings zwischen Warenverkehr und Dienstleistungen differenzieren. Was ist davon zu halten?
Das ist eine Unterscheidung, die das IW bereits 2016 vorgeschlagen hat: restriktionsloser Warenhandel, aber mehr Einschränkungen im Dienstleistungsverkehr. Mit Blick auf die Industrie wäre diese Lösung für beide Seiten von Vorteil. Sie basiert darauf, dass Großbritannien auch in Zukunft produktrelevante Regeln der EU verlässlich übernimmt.
Die EU wird ihre Zollhoheit nicht einfach so und auf Dauer an Großbritannien abtreten.
Generell gilt: Wenn ein Freihandelspartner andere Außenzölle erhebt oder andere Regeln für den Warenverkehr hat, braucht es Kontrollen auf beiden Seiten. Damit solche Kontrollen an der Grenze zur EU nicht nötig werden, reicht die Harmonisierung der produktrelevanten Regeln noch nicht. Daher hat die britische Premierministerin ein sogenanntes neues vereinfachtes Zollarrangement vorgeschlagen, bei dem Großbritannien beim Import von Waren aus Drittländern die EU-Zölle anwendet und die Einnahmen an die EU weitergibt.
Würde dieses Vorgehen auch das Problem der Warenkontrollen an der Grenze zwischen Irland und Nordirland lösen?
Ja, das würde es, da keine Grenzkontrollen für Waren mehr nötig wären. Das Problem ist allerdings, dass sich die EU wahrscheinlich nicht darauf einlassen wird.
Die EU müsste sich bei Zollerhebung und Warenkontrollen dauerhaft auf die Briten verlassen. In der Vergangenheit haben britische Zöllner jedoch des Öfteren Zölle inkonsequent erhoben, sodass Nachzahlungen nötig wurden. Es gibt also durchaus einen Grund, an der Verlässlichkeit der Briten zu zweifeln.
Darüber hinaus ist es auch eine Frage des Prinzips. Die EU wird ihre Zollhoheit nicht einfach so und auf Dauer an Großbritannien abtreten.
Man muss außerdem künftige Regierungswechsel in die Betrachtung ziehen. Wenn Hardliner in Großbritannien an die Macht kommen, könnten sie sagen: Diese Abmachung haben wir nicht geschlossen und lehnen sie ab. In Zeiten von Trump scheinen Verträge vorheriger Regierungen nicht mehr sehr viel wert zu sein.
Die Wirtschaft in Großbritannien hat sich lange zurückgehalten, zuletzt gab es aber immer mehr kritische Stimmen zum Vorgehen der Regierung. Wie viel Druck erwarten Sie seitens der Wirtschaft in den kommenden Wochen?
Der Einfluss der Wirtschaft ist schon jetzt zu spüren. Er war meiner Meinung nach ausschlaggebend für die Vorschläge von Theresa May, vor allem mit Blick auf die Harmonisierung der Regeln im Warenhandel mit der EU. Die Lobbyarbeit war an dieser Stelle offensichtlich effektiv und aus ökonomischer Sicht richtig.
Nach dem Brexit-Votum wurde prognostiziert, dass die britische Wirtschaft den Brexit schon vor dem tatsächlichen Austritt aus der EU spüren wird und viele Firmen die Insel verlassen werden. Sind diese Vorhersagen bislang eingetroffen?
Es gibt abgesehen von einigen Firmenmeldungen aktuell keine belastbaren gesamtwirtschaftlichen Zahlen. Was wir generell sagen können: Die vorläufige Einigung auf ein Übergangsabkommen und die damit verbundene Aussage, dass sich am Handel zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich bis zum Ende des Jahres 2020 nichts verändern soll, reduziert erst einmal den Verlagerungsdruck. Allerdings kann das Übergangsabkommen auch noch scheitern. Was wir zudem feststellen: Die Auslandsinvestitionen im Vereinigten Königreich sind deutlich zurückgegangen.
Die Einrichtung einer Brexit Task Force unter Michel Barnier als verlängertem Arm der 27 Mitgliedsstaaten war ein kluger Schachzug.
Wie bewerten Sie die Verhandlungsstrategie der Europäischen Union bislang?
Die Verhandlungsposition der EU ist in zweierlei Hinsicht bemerkenswert. Zum einen ist sie standfest, selbstbewusst und fordernd. Darin spiegelt sich die größere Verhandlungsmacht der EU, die einen wesentlich größeren Absatzmarkt zu bieten hat. Zum anderen ist es bisher gelungen, die Einigkeit unter den übrigen 27 Mitgliedsländern zu bewahren. Versuche der Briten, die Staaten der EU gegeneinander auszuspielen, waren bislang nicht erfolgreich.
Die Einrichtung einer Brexit Task Force unter Michel Barnier als verlängertem Arm der 27 Mitgliedsstaaten war dabei ein kluger Schachzug. Durch sie entsteht schon im Vorfeld der eigentlichen Verhandlungen ein großer Einigungsdruck, der aber hinter verschlossenen Türen erzeugt wird.
Die Hoffnung stirbt zuletzt: Sehen Sie eine Chance, dass der Brexit doch noch abgewendet wird? So recht scheint ihn doch wirklich keiner zu wollen.
Das kann man so nicht sagen. Das Vereinigte Königreich ist weiter tief gespalten. Im Vergleich zum Referendum haben die EU-Befürworter nun eine knappe Mehrheit. Bevor in den Umfragen nicht ein riesiger Vorsprung für den Verbleib in der EU da ist, wird es kein zweites Referendum geben. Und ohne dies wird der Brexit nicht kippen.