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Interview: „Die alte Regierung hat eine Herausforderung hinterlassen“

Die Wirtschaftsverbände blicken trotz der Corona-Pandemie und Problemen mit den Lieferketten überwiegend optimistisch in die Zukunft. Damit die wirtschaftliche Erholung tatsächlich stattfinden kann, rät IW-Direktor Michael Hüther der neuen Bundesregierung, sich stärker um die Umsetzung von Politikzielen zu kümmern, als dies bislang der Fall war.

Kernaussagen in Kürze:
  • IW-Direktor Michael Hüther sieht enormes Aufholpotenzial für die deutsche Wirtschaft im Jahr 2022, weshalb ihn die optimistischen Einschätzungen in der jüngsten IW-Verbandsumfrage nicht überraschen.
  • Dennoch zeigt sich der Ökonom entsetzt darüber, wie wenig die abgewählte Bundesregierung seit dem Frühsommer an Pandemievorsorge betrieben hat.
  • Von der neuen Ampelkoalition fordert Hüther, die Alterung der Gesellschaft ernster zu nehmen, denn der demografische Wandel inklusive Fachkräftemangel fordere jetzt und nicht erst in der nächsten Legislaturperiode zum Handeln auf.
Zur detaillierten Fassung

Der deutschen Wirtschaft wurden zur Bekämpfung der Corona-Pandemie viele Einschränkungen auferlegt, die von Unternehmen und Verbänden teils heftig kritisiert wurden – wie zuletzt die 2G-Regelung für die Gastronomie und den Einzelhandel. Wie sollten in den kommenden Monaten der Gesundheitsschutz und die wirtschaftliche Freiheit idealerweise ausbalanciert werden?

Nach zwei Jahren Pandemieerfahrung wissen wir, dass wir nicht sicher sein können vor Überraschungen – die Virusmutationen machen uns das gerade sehr deutlich. Es muss also einerseits darum gehen, den Gesundheitsschutz so gut wie möglich zu gewährleisten, andererseits aber gleichzeitig Wirtschaft und Gesellschaft in einigermaßen normalen Bahnen fahren zu lassen.

Das kann nicht zu jeder Zeit im gleichen Maß gelingen: Je größer die Gefahr, desto restriktiver fallen die Maßnahmen aus. Wobei wir ja heute wissen, dass beispielsweise die Schulschließungen weitestgehend vermeidbar gewesen wären. Sie wären auch heute definitiv vermeidbar, wenn zwischenzeitlich vieles gemacht worden wäre, was Experten geraten haben, wie etwa die Anschaffung von Luftfiltern.

Die Pandemiepolitik fährt immer noch auf Sicht und seit dem Frühsommer ist praktisch nichts mehr an Pandemievorsorge passiert.

Auch dass wir in Deutschland nun so geringe Kapazitäten im Gesundheitswesen haben, hätte sich verhindern lassen: Dass man den Schwund an Pflegekräften einfach hingenommen hat, ist nicht verständlich – dafür muss man die Personalpolitik in den Kliniken mitverantwortlich machen.

Wir müssen jetzt natürlich mit den Dingen leben, wie sie sind, zentral ist und bleibt die Impfkampagne. Im Grunde aber fährt die Pandemiepolitik immer noch auf Sicht, wenn gleichwohl keiner mehr das tun würde, was wir Mitte März 2020 machen mussten, also alles runterfahren und die Grenzen komplett dicht machen.

Ist denn die neue Bundesregierung mit Gesundheitsminister Karl Lauterbach und Wirtschaftsminister Robert Habeck da auf einem guten Weg?

Michael Hüther ist Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft; Foto: Institut der deutschen Wirtschaft Um das zu beurteilen, sind die beiden noch zu kurz im Amt. Was man aber feststellen muss, ist, dass die alte Regierung der neuen eine ziemliche Herausforderung hinterlassen hat: Seit dem Frühsommer ist praktisch nichts mehr an Pandemievorsorge passiert – weder was das Boostern angeht, noch was die Entwicklung der medizinischen Kapazitäten betrifft.

War das dem Wahlkampf geschuldet oder ist das schlicht unprofessionell?

Ich bin wirklich entsetzt, was insbesondere im Gesundheitsministerium auch nach zwei Jahren Pandemie alles nicht vorangetrieben wurde. Man hätte strategisch eine ganze Menge angehen können: Die Impfstoffbeschaffung lag ja offensichtlich brach, das Management anderer Beschaffungen im Gesundheitswesen ebenso. Hinzu kommt die mangelhafte Steuerung der Kapazitäten, die man im permanenten Gespräch mit den Krankenhausbetreibern hätte vornehmen können.

Woran es ebenso hapert, ist die Bereitstellung von Daten: Bis heute werden zum Beispiel keine Daten über Corona-Patienten auf Intensivstationen systematisch erhoben. Wenn man diese Daten hätte, könnte man zum Beispiel sehr viel zielgenauer die Lücken in der Impfkampagne schließen.

Was muss sich ändern?

Gut ist, dass das erste Kapitel des neuen Koalitionsvertrags „Moderner Staat und digitale Verwaltung“ heißt. Politik muss sich viel mehr um die Umsetzung ihrer Maßnahmen kümmern, als das bislang der Fall war. Ziele kann man schnell definieren, entscheidend sind aber die Rahmenbedingungen wirtschaftlichen Handelns: Wir brauchen viele private Investitionen und wir brauchen dafür gute und schnelle Genehmigungsverfahren sowie eine exzellente Infrastruktur, damit all die Maßnahmen und Zielvorgaben wie etwa zum Klimaschutz auch erreicht werden können.

Die Regierung muss dafür sorgen, dass sich die Investitionen der Unternehmen rasch lohnen – mit Superabschreibungen, schnelleren Planungs- und Genehmigungsverfahren und besserer Infrastruktur.

Viele Themen kann die Politik schnell angehen, wie beispielsweise die Vereinfachung von Planungs- und Genehmigungsverfahren oder die sogenannten Superabschreibungen für transformationsrelevante Investitionen. Entsprechende steuerliche Abschreibungen, zum Beispiel für Investitionen in den Klimaschutz, können innerhalb von zwei Jahren erfolgen und müssen nicht wie bei anderen Themen auf zehn Jahre gestreckt werden. Oder man lässt einen Abschreibungsbetrag zu, der über den Anschaffungs- und Herstellungskosten liegt.

Welche Impulse sollte der neue Wirtschafts- und Klimaminister Robert Habeck 2022 setzen, damit die Transformation hin zu einer klimaneutralen Wirtschaft gelingt?

Erstens sollte die Treibhausgasreduktion über den CO2-Preis konsistent vonstattengehen und schlüssig ausgebaut werden – in allen Bereichen, so wie das jetzt in Deutschland für den Gebäudesektor und den Verkehr passiert, und darüber hinaus muss all das einheitlich auf europäischer Ebene etabliert werden. Wichtig ist dafür eine sektorübergreifende Bewertung.

Zweitens müssen wir die Voraussetzungen schaffen, dass sich Investitionen der Unternehmen rasch lohnen, was zum einen an den bereits erwähnten Planungs- und Genehmigungsverfahren hängt. Zum anderen beeinflussen den Erfolg privaten Engagements alle öffentlichen Investitionen, mit denen beispielsweise die digitale Infrastruktur, das Verkehrsnetz und die Energie bereitgestellt werden. Allein die gesperrten Brücken in Deutschland, die ja ein Resultat vernachlässigter Investitionen sind, führen zu enormen Belastungen – nicht nur für die Verkehrsteilnehmer, sondern auch für die dort lebenden Menschen sowie die Umwelt.

Welche neue wirtschaftspolitische Belastung wäre ein No-Go?

Steuererhöhungen wären fatal, denn wir brauchen kapitalstarke Unternehmen, damit diese investieren können.

Und die Politik sollte die Alterung der Gesellschaft ernster nehmen. Leider wird im neuen Koalitionsvertrag so getan, als gäbe es dafür keinen Handlungsbedarf in den nächsten vier Jahren. Tatsächlich aber ist es so, dass ab der Mitte des Jahrzehnts das Erwerbspersonenpotenzial schrumpft – und zwar erheblich. In dieser Hinsicht jetzt nicht zu handeln, ist fatal.

Inmitten der vierten Corona-Welle, erneuter Lockdowns in den Nachbarländern, Kontaktbeschränkungen bei uns und trotz Lieferengpässen erwarten rund 80 Prozent der deutschen Wirtschaftsverbände, die das IW vor Kurzem befragt hat, für das Jahr 2022 eine positive Geschäftsentwicklung. Woher kommt dieser Optimismus?

Auf der einen Seite darf man nicht vergessen, dass sich die deutsche Wirtschaft durch die schwache Entwicklung im Jahr 2021 immer noch unter dem Vorkrisenniveau befindet. Da gibt es also enormes Aufholpotenzial, zumal die Auftragsbücher historisch voll sind. Auf der anderen Seite gehen wir davon aus, dass sich die Lieferprobleme 2022 ein Stück weit normalisieren. Hinzu kommt, dass in dieser positiven Einschätzung der Wirtschaftsverbände natürlich auch die Erwartung steckt, dass die Lockdown-Politik des Frühjahrs 2020 nicht noch einmal nötig sein wird.

Die weltweite Arbeitsteilung steht grundsätzlich immer auf dem Prüfstand.

Sollte Deutschland unabhängiger von ausländischen Vorprodukten werden?

Vor Corona waren wir nicht zu abhängig, jetzt sind wir es vielleicht. Aber Lieferketten sortiert man nicht täglich neu. Wenn Deutschland nun etwa in die Halbleiterproduktion einsteigen würde, braucht es anderthalb bis zwei Jahre, bis die entsprechenden Produktionskapazitäten aufgebaut sind – und dann haben wir möglicherweise gar keinen Mangel mehr an Halbleitern, aber die Liefersicherheit hat sich natürlich erhöht.

Die Arbeitsteilung, die sich weltweit durch die globalen Wertschöpfungsketten ausgebildet hat, steht grundsätzlich immer auf dem Prüfstand. Aber auch das ist ein laufender Prozess des Prüfens und Abwägens. Grundsätzlich sollte über Global Sourcing die Produktion und Beschaffung einzelner Güter und Vorleistungen breiter aufgestellt werden. Das ist zwar bei Rohstoffen nicht so einfach, aber bei vielen Vorprodukten schon.

Die meisten Wirtschaftsverbände gehen davon aus, dass ihre Mitgliedsunternehmen 2022 zusätzliche Mitarbeiter einstellen werden. Sie selbst haben bereits den Fachkräftemangel angesprochen. Wie soll da ein Beschäftigungsaufschwung möglich sein?

Wir haben immer noch viele Arbeitslose, die man in Beschäftigung bringen kann. Aber es ist schon richtig: Anders als nach der Finanzkrise ist das Erwerbspersonenpotenzial sehr viel deutlicher ausgeschöpft. Wir können sicherlich das Fachkräfteeinwanderungsgesetz besser nutzen, aber damit sind auch Investitionen verbunden: Wenn ich mehr Menschen ins Land hole, muss ich auch mehr integrieren, dafür sind zusätzlicher Wohnraum und Bildungsangebote nötig.

Ich halte es aber für mindestens genauso wichtig, die Jahresarbeitszeit in Deutschland zu erhöhen. Im Schnitt arbeiten Erwerbstätige in der Bundesrepublik zwei Stunden in der Woche weniger als die Schweizer und eine Stunde weniger als die Schweden.

Wird es für die Unternehmen dann nicht noch schwieriger, neue Mitarbeiter zu finden?

Wenn die Arbeitssouveränität zunimmt, Menschen also viel öfter arbeiten können, wann und wo sie wollen, sind zwei Stunden Arbeit mehr pro Woche nicht das Thema.

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