Interview Lesezeit 5 Min.

„Corona beschleunigt den strukturellen Wandel der deutschen Wirtschaft“

In den vergangenen Jahrzehnten hatten deutsche Konjunkturforscher meist gute Nachrichten zu verkünden. Doch seit der Corona-Pandemie steht auch die Welt der Prognostiker kopf. Im iwd-Interview erklärt IW-Konjunkturexperte Michael Grömling, wie oft er seine Prognosen im vergangenen Jahr korrigieren musste und wie lange Deutschland einen harten Lockdown durchhalten kann.

Kernaussagen in Kürze:
  • Die Politik hat im Rahmen der Pandemiebekämpfung stärker denn je ins Wirtschaftsleben eingegriffen. Das sei auch richtig, so IW-Konjunkturexperte Michael Grömling. Man müsse sich aber Gedanken darüber machen, wie man den gefährdeten Betrieben auch nach dem Shutdown helfen kann.
  • Die Industrie wurde von der Pandemie laut Grömling stärker getroffen als der Dienstleistungssektor, weil sie bereits zuvor mit strukturellen Problemen zu kämpfen hatte.
  • Insgesamt bezeichnet der IW-Experte die Corona-Hilfen als zielführend, längerfristig müsse es allerdings auch darum gehen, öffentliche Investitionsmittel effizienter einzusetzen.
Zur detaillierten Fassung

Herr Grömling, für Sie als Konjunkturforscher muss 2020 ein Jahr der Achterbahnfahrten gewesen sein. Wie oft mussten Sie Ihre Prognosen revidieren?

Regelmäßig, teilweise im Wochentakt. Eine Prognose basiert ja auf bestimmten Annahmen, und sobald wichtige davon ins Wanken geraten oder wegbrechen, ist auch die Prognose hinfällig. Hinzu kommt, dass in dieser Krise nicht nur ökonomische, sondern auch epidemiologische Faktoren wie ein möglicher Krankheitsverlauf in unsere Vorhersagen einfließen. Da wird uns Konjunkturforschern zusätzlich einiges abverlangt. All das erklärt die zugegebenermaßen eingeschränkte Güte der Prognosen für 2020, auch wenn das IW im Herbst als eines der ersten Wirtschaftsforschungsinstitute erwartet hat, dass das erste Quartal 2021 für die deutsche Wirtschaft kein Selbstläufer wird.

Seit Mitte Dezember ist Deutschland erneut im harten Lockdown. Wie lange kann die deutsche Wirtschaft diesen neuen Stillstand durchhalten?

Im Prinzip kann man alles durchhalten, die Frage ist nur, mit welchen ökonomischen Folgen auf kurze und auf lange Sicht. Derzeit kämpfen viele Unternehmen unverschuldet ums nackte Überleben, weil die Pandemie die Nachfrage und Produktion beeinträchtigt und die Politik im Rahmen ihrer Pandemiebekämpfung so stark ins Wirtschaftsleben eingegriffen hat wie noch nie in der Nachkriegsgeschichte. Das war und ist auch richtig, doch man wird sich sicherlich Gedanken darüber machen müssen, wie man den gefährdeten Betrieben während und auch nach dem Shutdown helfen kann.

Der Lockdown betrifft unmittelbar vor allem Dienstleistungssektoren wie den Einzelhandel. Dennoch blicken auch viele Industrieverbände eher pessimistisch ins Jahr 2021.

Die Krise hat die Industrie im Frühjahr 2020 erheblich stärker in Mitleidenschaft gezogen als die Gesamtheit der Dienstleister. Die Fallhöhe der Industrie war deshalb erheblich höher, weil wir es hier nicht nur mit einem rein konjunkturellen Phänomen zu tun haben, bei dem die Pandemie zu Produktionsbeeinträchtigungen und einer weltweit abgewürgten Nachfrage führte. Vielmehr hat die Pandemie auf einen Wirtschaftsbereich eingewirkt, der bereits seit zwei Jahren auch aus strukturellen Gründen in der Rezession ist. Deshalb sind die künftigen Anpassungslasten für die Industrie auch möglicherweise stärker als für den Dienstleistungsbereich, wo es stark vereinfacht so aussehen könnte, als würde man das Licht aus- und dann wieder anmachen. Welche Geschäftsmodelle im Industrie-, aber auch im Dienstleistungsbereich ernsthaft auf dem Prüfstand stehen, wird sich verstärkt in diesem Jahr zeigen.

Weil die Industrie bereits seit zwei Jahren auch aus strukturellen Gründen in der Rezession ist, sind ihre künftigen Anpassungslasten auch möglicherweise stärker als für den Dienstleistungsbereich.

23 von 43 Branchen, die an der aktuellen IW-Verbandsumfrage teilgenommen haben, werden 2021 aller Voraussicht nach Mitarbeiter entlassen. Waren die Beschäftigungsaussichten schon jemals so schlecht?

Das Bild war 2009 ähnlich düster. In starken Krisen müssen die Unternehmen immer auch versuchen, sich bei Produktionseinbrüchen durch Arbeitsmarktanpassungen Luft zu verschaffen.

In den Industriebranchen, die mit pessimistischen Beschäftigungserwartungen ins neue Jahr gehen, handelt es sich allerdings zum Teil um Anpassungen, die auch ohne Corona stattgefunden hätten. Die Pandemie beschleunigt diesen Prozess aber gewaltig. Und solange die Weltwirtschaft nicht wieder Fahrt aufnimmt, werden deutsche Industrieunternehmen im großen Stil keine neuen Leute einstellen.

Wie kann die deutsche Politik diesen Prozess positiv beeinflussen?

Das dringendste Problem, das Politik und Gesellschaft gemeinsam angehen müssen, ist, die Pandemie in den Griff zu bekommen. Neben den aktuell einschränkenden Maßnahmen sind dies vor allem Impfungen und weitere Forschung in diesem Bereich.

Darüber hinaus müssen wir versuchen, möglichst viele Unternehmen am Leben zu erhalten und damit möglichst viele Arbeitsplätze durch die Krise zu bringen.

Die Kurzarbeit ist das adäquate Mittel, es hat uns 2020 geholfen und wird wahrscheinlich auch im Winterhalbjahr 2020/21 noch eine große Rolle spielen. Damit stabilisiert man private Einkommen und Zuversicht. Man sollte allerdings das, was konjunkturell in der jetzigen Phase nötig ist – also Arbeitsplätze und Unternehmen zu sichern –, nicht mit strukturellen oder politischen Zielen überfrachten.

Zum Beispiel?

Indem man etwa die jetzigen Corona-Maßnahmen mit bestimmten Zielen der Energiewende verknüpft. Die Anzahl der Maßnahmen sollte immer der Anzahl der Ziele entsprechen, das hat schon der niederländische Ökonom Jan Tinbergen in den 1950er Jahren beschrieben. Mir scheint, dass manche derzeit mehrere Ziele mit einem Maßnahmenbündel erreichen wollen. Das funktioniert so nicht. In der aktuellen Verunsicherung muss es um eine Stabilisierung der Beschäftigung und der Unternehmen gehen und erst danach kann man die strukturellen Herausforderungen angehen. Das ist kein vorgeschobenes Argument.

Die EU und auch die Bundeskanzlerin haben diese Frage aber doch längst anders beantwortet. Mindestens 30 Prozent des 750 Milliarden Euro schweren Corona-Aufbaufonds sollen zur Umsetzung der Klimaziele genutzt werden.

Michael Grömling ist Leiter der Forschungsgruppe Gesamtwirtschaftliche Analysen und Konjunktur im IW Köln; Foto: IW Medien Das stimmt. Viele dieser Maßnahmen sind aber weit nach vorne gerichtet. Das sind keine Maßnahmen, die jetzt, angesichts umfassender Lockdown-Maßnahmen und hoher Verunsicherungen, am Jahresanfang 2021 eingesetzt werden, um die akute Not zu überwinden.

Sind die Corona-Hilfen zielführend?

Ja. Vor allem, wenn man bedenkt, dass es für diese Krise keine Blaupausen in der Schublade gab, die man hätte hervorziehen können. Die Krise muss epidemiologisch in den Griff bekommen und wirtschaftspolitisch begleitet werden. Es wurde von den meisten nicht erwartet, dass ein Großteil des Einzelhandels, alle Restaurants und viele andere Dienstleister erneut und vor allem über die Weihnachtszeit schließen müssen. Vieles, was seitens des Bundes und der Landesregierungen an Liquiditätshilfen angeboten wird, hat Sicherheit geschaffen. Und mit der Möglichkeit der Kurzarbeit wurden im Frühjahr 2020 immerhin sechs bis sieben Millionen Arbeitsplätze stabilisiert.

Der IW-Verbandsumfrage zufolge hellt sich das Investitionsklima 2021 nur zögerlich auf. Wie ließen sich – auch unabhängig von Corona – die Rahmenbedingungen für Investitionen in Deutschland mittelfristig verbessern?

Bei öffentlichen Investitionen reicht es nicht aus, einfach nur Geld zur Verfügung zu stellen: Der Einsatz der Mittel muss effizienter werden. Das hat Priorität.

Der Einsatz öffentlicher Investitionsmittel muss effizienter werden.

Im privatwirtschaftlichen Bereich haben wir das Problem, dass Unternehmen sich deshalb mit Investitionen zurückhalten, weil sie nicht wissen, wie sich 2021 und auch danach die Konjunktur entwickelt.

Was wir auf jeden Fall brauchen, ist eine Verstetigung der Unterstützung forschungsintensiver Unternehmen. Bei all den wichtigen Erfolgen, die wir hier derzeit auch in Deutschland sehen, ist in Ländern wie den USA die staatliche Forschungsförderung offensichtlich stärker und effizienter.

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