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„Viele können statistische Fragestellungen nur schwer einordnen“

In Deutschland liegt die Arbeitslosenquote über 20 Prozent: So denken viele Bundesbürger – und zeichnen damit ein Bild, das weit von der Realität entfernt ist. Judith Niehues, Leiterin der Forschungsgruppe Mikrodaten und Methodenentwicklung im IW, erläutert mögliche Ursachen für diese verzerrte Wahrnehmung und zeigt auf, wie Pessimismus und Populismus zusammenhängen.

Kernaussagen in Kürze:
  • IW-Verteilungsforscherin Judith Niehues hat in einer Studie herausgefunden, dass die Menschen in vielen Ländern völlig übertriebene Vorstellungen von der Höhe der Arbeitslosigkeit haben.
  • Zu den Gründen zählen laut Niehues die mediale Berichterstattung, Persönlichkeitsmerkmale wie ein genereller Hang zum Pessimismus und eine schlechte Meinung von Arbeitslosen sowie Schwierigkeiten, Statistiken einzuordnen.
  • In vielen EU-Ländern wird eine solche pessimistische Haltung von populistischen Parteien instrumentalisiert und mit Fake News zusätzlich befeuert.
Zur detaillierten Fassung

Wie lässt sich erklären, dass die soziale Situation in Deutschland von der Bevölkerung viel negativer wahrgenommen wird, als sie tatsächlich ist? Sie haben unter anderem festgestellt, dass mehr als jeder Dritte glaubt, die Arbeitslosenquote läge über 20 Prozent.

Das ist kein deutsches Phänomen, auch im internationalen Vergleich zeigt sich, dass solche Überschätzungen relativ häufig sind. Das gilt auch für andere Themen wie Kriminalität oder die Zahl der Zuwanderer in einem Land.

Bei Gerechtigkeitseinschätzungen konnten wir in einer früheren Studie zeigen, dass diese beispielsweise mit der medialen Berichterstattung zusammenhängen. Ganz erklären lassen sich die großen Unterschiede zwischen Realität und Wahrnehmung damit allerdings nicht. Da sich diese zwischen Ländern als recht konstant erweisen, dürften insbesondere historische und kulturelle Erklärungsfaktoren eine große Rolle spielen. Hinzu kommt, dass viele Menschen statistische Fragestellungen schwer einordnen können.

Obwohl die Arbeitslosigkeit drastisch überschätzt wird, will die Mehrheit der Bevölkerung die Ausgaben für die Arbeitslosenunterstützung nicht erhöhen. Wie passt das zusammen?

Wer die Arbeitslosenquote stark überschätzt, hat auch eher ein negatives Bild von Arbeitslosen: So haben Befragte mit einer sehr pessimistischen Einschätzung häufiger die Vermutung, Arbeitslose würden sich nicht wirklich bemühen, eine Stelle zu finden. Sie haben auch weniger Vertrauen in ihre Mitmenschen – und sind deswegen vermutlich auch weniger solidarisch.

Befragte mit einer sehr pessimistischen Einschätzung zur Höhe der Arbeitslosenquote haben häufiger die Vermutung, Arbeitslose würden sich nicht wirklich bemühen, eine Stelle zu finden.

Sie haben einen Zusammenhang zwischen Pessimisten und Populisten nachgewiesen. Wen von beiden gab es zuerst?

Richtig bestimmen können wir das für Deutschland nicht, denn die AfD gab es 2008 – dem ersten Befragungszeitpunkt zur vermuteten Arbeitslosigkeit – noch nicht. Grundsätzlich haben Populisten ein Interesse daran, „die politische Elite“ für jegliche Schwierigkeiten im Land verantwortlich zu machen und diese zu skandalisieren. Eine vermeintlich hohe Arbeitslosenquote bietet da eine gewisse Angriffsfläche. Auf der anderen Seite gibt es sicherlich auch Menschen, die sich für entsprechend pessimistische Botschaften besonders empfänglich zeigen. Letztlich bedingen sich Pessimismus und Populismus wohl gegenseitig, wobei die Verbreitung von übertriebenen und falschen Darstellungen, also Fake News, mithilfe von Social Media die Wechselwirkungen noch befeuern dürfte.

Sich seriös zu informieren, ist in Deutschland eigentlich nicht besonders schwer.

Judith Niehues ist Leiterin der Forschungsgruppe Mikrodaten und Methodenentwicklung im IW; Foto: IW Medien Ganz so einfach ist es aber auch nicht. Ein Beispiel: Ist die Ungleichheit in Deutschland gestiegen, konstant oder gesunken? Sie ist höher als in den 1990er Jahren, aber seit 2005 hat sich das Niveau nicht weiter erhöht. Dieselben Daten können also zu unterschiedlichen Bewertungen führen – und beide Positionen lassen sich faktengetreu belegen! Und dann wird es eben schwierig, zu differenzieren.

Es gibt aber auch Kennzahlen, die sich die Bundesbürger gut merken können: zum Beispiel die Bevölkerungsgröße von 82 Millionen Menschen. Bei vielem anderen, was mit Zahlen zu tun hat, sind die Diskrepanzen immens.

In einigen anderen Ländern gibt es den Gleichklang von Pessimisten und Populisten nicht. In Schweden zum Beispiel haben die rechtspopulistischen Schwedendemokraten bei der Parlamentswahl 2018 rund 17 Prozent der Stimmen bekommen, die Arbeitslosigkeit wird dort allerdings nur wenig überschätzt.

Die Arbeitslosenquote allein greift natürlich viel zu kurz, um solche komplexen Zusammenhänge zu erklären. Das Thema Migration ist ja ebenfalls relevant für das Erstarken rechter populistischer Parteien. Insbesondere in Ländern mit großzügigem und allgemein zugänglichem Wohlfahrtsstaat – wie in Schweden – konnten Rechtspopulisten mit der Stigmatisierung von Migranten Erfolge feiern.

Die Deutschen wünschen sich auch mehr Umverteilung. Wie sieht es im Ausland aus?

Auch in vielen anderen Ländern sieht die Mehrheit der Bürger den Staat in der Verantwortung, die Einkommensunterschiede zwischen Arm und Reich abzubauen. Unter den wohlhabenden Ländern ist der Wunsch in Deutschland allerdings besonders stark ausgeprägt – und das, obwohl nur wenige Länder eine höhere staatliche Umverteilung aufweisen.

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