Menschen mit Behinderung: Selten der eigene Boss
Ob Handwerksmeisterin, Physiotherapeut oder Webseitenentwickler – ohne Selbstständige wäre das Wirtschaftsleben in Deutschland kaum denkbar. Allerdings wagen Menschen mit Behinderung diesen Schritt deutlich seltener als Menschen ohne Behinderung.
- In Deutschland machen sich Menschen mit Behinderung seltener selbstständig als Menschen ohne Behinderung.
- Dabei bietet gerade die Selbstständigkeit Menschen mit Behinderung entscheidende Vorteile: Sie können flexibel über ihr Arbeitspensum entscheiden sowie darüber, was sie sich zutrauen.
- Der Weg in die Selbstständigkeit müsste für Menschen mit Behinderung stärker vom Staat gefördert werden, beispielsweise über steuerliche Vorteile.
Menschen mit Behinderung sollen die gleichen Chancen wie andere Menschen haben, am Erwerbsleben teilzuhaben – darin sind sich im Grundsatz alle einig. Ein Aspekt wird dabei aber sehr selten angesprochen: die Selbstständigkeit.
Menschen mit Behinderung können auf zahlreiche Unterstützungsangebote zurückgreifen, um am Arbeitsleben teilzuhaben. Doch viele Angebote sind so ausgerichtet, dass Angestellte, Arbeiter und Beamte von ihnen mehr profitieren als Selbstständige.
Eine Auswertung von Daten auf Basis des Mikrozensus zeigt (Grafik):
7,6 Prozent aller Menschen mit einer Behinderung, die im Jahr 2017 einer Erwerbstätigkeit nachgingen, waren selbstständig – bei Menschen ohne Handicap lag der Anteil bei 10,6 Prozent.
Wie kommt diese Diskrepanz zustande? Menschen mit Behinderung sind mindestens so innovativ wie Menschen ohne Behinderung – schließlich finden Behinderte für ihre alltäglichen Herausforderungen jeden Tag Lösungen, die von der Norm abweichen.
Tatsächlich können Menschen mit Behinderung in Deutschland auf zahlreiche Unterstützungsangebote wie beispielsweise technische Arbeitshilfen zurückgreifen, um am Arbeitsleben teilzuhaben. Doch viele dieser Angebote sind so ausgerichtet, dass Angestellte, Arbeiter und Beamte von ihnen mehr profitieren als Selbstständige: Bis zu fünf Tage mehr Urlaub im Jahr, die Freistellung von Mehrarbeit oder ein erweiterter Kündigungsschutz helfen einem deutlich mehr, wenn man angestellt und nicht sein eigener Boss ist.
Es gibt zwar auch spezifische Unterstützung für Selbstständige mit Behinderung, aber bei den vergleichsweise wenigen Angeboten handelt es sich vorwiegend um Darlehen und Zinszuschüsse. Statistische Auswertungen des Mikrozensus zeigen außerdem: Je mehr die gegenwärtig gewährten staatlichen Unterstützungsleistungen in Anspruch genommen werden können, desto weniger Menschen mit Behinderung arbeiten als Selbstständige.
Dabei haben Menschen mit Behinderung, die als Selbstständige arbeiten, viele Vorteile:
- flexible Arbeitszeiten, die dem eigenen Tempo und den individuellen Bedürfnissen angepasst werden können;
- ein Arbeitsklima, in dem sie selbst bestimmen, was sie sich zutrauen;
- die Chance, eigene Ideen zu realisieren und ihre Individualität als Unternehmer auszuleben.
Der Weg in die Selbstständigkeit müsste für Menschen mit Behinderung stärker vom Staat gefördert werden. Steuerliche Vorteile könnten helfen, die erste Zeit als Selbstständiger besser zu überstehen. In herausfordernden Phasen – etwa bei der Ersteinstellung neuer Mitarbeiter oder bei Veränderungen im Geschäftsmodell – könnten großzügigere Arbeitsassistenzen gewährt werden, um einen erhöhten zeitlichen Freiraum zu gewähren. Und Menschen in Behindertenwerkstätten könnten in Pilotversuchen dabei unterstützt werden, kleine Teile ihres Arbeitslebens als Selbstständiger zu gestalten.
Es fehlt auch an Vorbildern
Neben Verbesserungen der gesetzlichen Rahmenbedingungen könnten auch vermeintlich softe Faktoren hilfreich sein – indem zum Beispiel erfolgreiche Unternehmerinnen und Unternehmer zeigen, dass und wie sie es mit Behinderung geschafft haben. Arbeitgeberverbände und Kammern könnten in Kampagnen diesen Vorbildern ein Gesicht geben, um junge Menschen in Förderschulen und in Integrationsklassen dazu zu bewegen, den Schritt in die Selbstständigkeit zu wagen.