„Kein EU-Staat wird es allein aus dieser Krise schaffen“
Der Italiener Marco Piantini arbeitet im Team des EU-Wirtschaftskommissars Paolo Gentiloni. Piantini hat das Programm SURE zur Unterstützung der Arbeitsmarktpolitik in den EU-Staaten mitentwickelt, das zum 1. Juli 2020 startet. Der iwd sprach mit ihm über das Programm, über Kurzarbeit und darüber, was die Union mit einem Mosaik gemeinsam hat.
- Mit dem neuen SURE-Programm unterstützt die EU die Nationalstaaten bei ihrer Arbeitsmarktpolitik in der Corona-Krise.
- Das Programm setzt auf die Solidarität der Staaten, redet ihnen aber nicht in die nationale Krisenpolitik rein, erklärt Marco Piantini aus dem Team des EU-Wirtschaftskommissars Paolo Gentiloni.
- Für Piantini muss die EU ihren Mitgliedern einen Mehrwert bieten und gleicht einem Mosaik: Erst in der Summe der Teile ergibt sich ein harmonisches Bild.
Der Essayist Nassim Nicholas Taleb hat in seinem berühmten Buch „Schwarzer Schwan“ über höchst seltene, unwahrscheinliche Ereignisse geschrieben. Die Corona-Pandemie ist – wie die Finanz- und Wirtschaftskrise vor zehn Jahren – wohl genau solch ein Schwarzer Schwan …
In der Tat. Es ist eine gewaltige Herausforderung. Ich mag es allerdings überhaupt nicht, wenn Leute jetzt sagen, dass man die aktuelle Krise als Chance begreifen und nutzen soll. Vielmehr gilt für mich: Wir müssen uns wegen der Krise weiterentwickeln – auch als EU.
Was genau meinen Sie damit?
Dafür bemühe ich gerne ein Bild, genauer gesagt ein Mosaik – und die EU ist so ein Mosaik. Es gibt nicht das eine Instrument oder die eine Maßnahme, die uns rettet oder die europäische Integration vollendet, sondern viele kleine Teile, die erst in der Summe mit all ihren Farben und Formen ein harmonisches Bild ergeben.
Ist für Sie SURE, das neue Programm der Europäischen Kommission zur Unterstützung der Mitgliedsstaaten beim Schutz von Erwerbstätigen und Arbeitsplätzen, solch ein Mosaikstein?
Auf jeden Fall. Erst vor wenigen Tagen hat der Europäische Rat beschlossen, dass SURE Realität, sprich Gesetz wird. Jetzt müssen 25 Milliarden Euro an Garantien durch die Mitgliedsstaaten von uns eingesammelt werden, damit wir 100 Milliarden via Kredit über die Kapitalmärkte besorgen können. Damit unterstützt die EU dann Staaten nach einem klar festgelegten Verfahren.
SURE kommt genau zum richtigen Zeitpunkt …
Aber die Idee war schon sehr lange da – in der politischen Wissenschaft, aber auch im Europäischen Parlament und im Wahlkampf vor der Europawahl im letzten Frühjahr.
SURE ist tatsächlich eine sehr konkrete Maßnahme, um der Covid-Krise auf europäischer Ebene etwas entgegenzusetzen: Das Programm ist bis Ende 2022 begrenzt und vereint viele Gedanken, die Europa ausmachen: Es setzt auf die Solidarität der Staaten, indem die Länder gemeinsam Schulden machen und den Zinsvorteil, den sie haben, an einzelne Staaten weitergeben.
Gleichzeitig redet keiner den Nationalstaaten in ihre individuelle Arbeitsmarktpolitik rein, die Diversität wird akzeptiert: Die Mitgliedsstaaten können SURE-Hilfen beantragen, um damit die für ihre Nation passenden Maßnahmen zur Unterstützung von Kurzarbeit und ähnlichen Instrumenten zu finanzieren.
Ich bin fest davon überzeugt: Wir können in Europa nur Erfolg haben, wenn wir die Unterschiede zwischen den Mitgliedsstaaten akzeptieren. Gleichzeitig steht für mich fest, dass es kein EU-Staat allein aus dieser Krise schaffen wird.
Deutschland ist vor zehn Jahren dank Kurzarbeit relativ gut durch die Wirtschafts- und Finanzkrise gekommen. Aktuell bieten viele Staaten ähnliche Sicherungssysteme an. Ist das der richtige Weg?
Auf jeden Fall. Aus der Krise vor zehn Jahren haben alle Staaten ihre Lehren gezogen. Dass Kurzarbeit ein sehr probates Mittel ist, um nach der Krise rasch wieder auf die Beine zu kommen, ist so eine Lehre. Also ist es sinnvoll, wenn die Nationalstaaten sie nutzen.
Europa muss einen Mehrwert bieten und den disruptiven Kräften entgegenwirken.
Als EU insgesamt haben wir nun übrigens – anders als damals – auch Instrumente, die wir einsetzen können, um Schlimmeres zu verhindern. Zum Beispiel den European Stability Mechanism ESM.
Und eben SURE. Bei SURE werde ich nicht müde zu betonen, wie wichtig es ist, dass wir bei diesem Unterstützungsmechanismus die Vielfalt der EU-Staaten akzeptieren.
Ich halte es für zentral, dass wir den Sozialpartnern, also Gewerkschaften und Verbänden, Betriebsräten und Firmenbossen sowie den jeweiligen Regierungen inhaltlich nicht reinreden.
Sie sind Italiener. Schon vor der Krise ging es Ihrer Heimat finanziell nicht gerade prächtig. Wie lange reicht nun bei den europäischen Sorgenkindern das Geld für all die nötigen Hilfsmaßnahmen? Droht uns eine neue Staatsschuldenkrise?
Natürlich stehen einige Staaten mit Blick auf die Verschuldung besser, teils sogar deutlich besser da als andere. Allerdings bringt es nichts, wenn wir jetzt anfangen, das Thema Staatsverschuldung in aller Breite neuerlich zu diskutieren.
Was ohnehin oft übersehen wird: Die Staaten, deren Verschuldung über 100 Prozent des jeweiligen Bruttoinlandsprodukts beträgt, sind für über 50 Prozent der Wirtschaftsleistung in der Union verantwortlich. Eine hohe Staatsverschuldung ist also keineswegs das Problem einiger weniger Länder.
Aktuell liegen zwei unterschiedliche Vorschläge auf dem Tisch, wie die Wirtschaft in Europa nach dem Corona-Lockdown wiederbelebt werden könnte. Ein Vorschlag kommt von Deutschland und Frankreich, einer von Österreich, Schweden und Co. Wie beurteilen Sie deren Chancen auf Realisierung?
Tatsächlich hat ja die EU-Kommission, für die ich arbeite, selbst einen Vorschlag gemacht, was zu tun ist. Der wird Grundlage aller künftigen Verhandlungen sein – sowohl zwischen den einzelnen Regierungen als auch im Europäischen Parlament, wo es darum geht, den mehrjährigen Finanzrahmen abzustecken. (Anmerkung der Redaktion: Das Interview wurde vor Veröffentlichung dieses Vorschlags geführt.)
Aber nun zurück zu Ihrer Frage: Ich bin keinesfalls schockiert, dass Regierungen unterschiedliche Ansichten haben und entsprechende Vorschläge präsentieren. Geschockt wäre ich, wenn es Europa nicht gelänge, eine ambitionierte Antwort auf diese nie da gewesene Krise zu geben.
Letztlich geht es immer – auch jetzt – darum, welchen Mehrwert die Europäische Union ihren Mitgliedern bieten kann. Nur mit solch einem Mehrwert können wir uns als Europäer gegen disruptive Kräfte stemmen und eine Fragmentierung der EU verhindern.
Und genau diesen Mehrwert kann Europa in dieser Krise unter Beweis stellen. Darauf hoffe ich.