Interview: „Wir brauchen auf mittlere Sicht erträgliche Energiekosten“
Die Energiekrise belastet fast alle Unternehmen und Verbraucher in Deutschland. Deshalb sind umfangreiche Entlastungsmaßnahmen wie die Gaspreisbremse durchaus angebracht, findet IW-Direktor Michael Hüther. Um die Energieversorgung in Deutschland zu sichern, sollten auch die verbliebenen Atomkraftwerke weiterlaufen sowie das Gas-Fracking vorangetrieben werden.
- "Die Unternehmen haben bisher ganz passabel mit der Energiekrise umgehen können", findet IW-Direktor Michael Hüther.
- Wenn die Energiekosten auf ein erträgliches Niveau sinken würden, rücke auch der Standort Deutschland wieder nach vorne. Das dürfte laut Hüther aber nicht vor 2024 der Fall sein.
- Entlastungsmaßnahmen wie die Gaspreisbremse sieht er deshalb als durchaus angebracht. Zudem fordert der IW-Direktor, dass die verbliebenen Atomkraftwerke weiterlaufen und das Gas-Fracking vorangetrieben wird.
Was ist mit Blick auf den Krieg in der Ukraine für Sie die wichtigste Erkenntnis der vergangenen Monate?
Es gibt zwei: Zum einen, dass man sich auf alles einstellen muss, auch auf das denkbar Schlechteste. Die zweite Erkenntnis lautet, dass man erst dann genau sieht, was so ein Ereignis für eine Volkswirtschaft bedeutet, wenn sich der Nebel ein bisschen verzogen hat – nämlich, dass mit diesem Krieg eine Energiekrise verbunden ist. Aber die Unternehmen haben damit bisher ganz passabel umgehen können.
Eine Lehre aus den Konflikten mit Russland und China ist, dass die deutsche Wirtschaft ihre Lieferketten generell stärker diversifizieren muss. Doch das Gegenteil passiert: Die deutschen Importe aus China erreichen dieses Jahr einen neuen Rekordwert.
Zunächst einmal ist das ein unternehmerisches Risiko, wo ein Betrieb einkauft. Und aus guten Gründen gehen Unternehmen in Märkte, die dynamisch sind. Ein volkswirtschaftliches Problem entsteht allerdings, wenn die Akteure in der Summe Fehlanreize verspüren, also die Risiken nicht sehen, die sie damit eingehen. Dazu kann auch die Politik selbst beitragen: Indem sie Bürgschaften und Garantien ausspricht für Kredite oder Investitionen, die man dort tätigt. Das wird nun seitens der Bundesregierung neu justiert. Im Übrigen gilt: China ist bei allen Unterschieden zwischen ländlichen Regionen und denen an der Küste kein Entwicklungsland mehr.
Diversifizierung in der Beschaffung ist letztlich eine Aufgabe, die jedes Unternehmen für sich betreiben muss. Eine Ausnahme bilden kritische Ressourcen wie Medizinprodukte. Hier muss die Politik darauf achten, dass ein Staat nicht zu abhängig von einem einzelnen Lieferland wird.
Haben die heimischen Betriebe, was den Bezug kritischer Rohstoffe und Ressourcen angeht, ausreichend diversifiziert?
Die Pandemie hat uns gezeigt, dass kritische Produkte wie Masken recht schnell auch am Standort Deutschland produziert werden können, wenn es nötig ist. Anders sieht es bei kritischen Inhaltsstoffen in der medizinischen Herstellung aus. Wenn einzelne Medikamente mit kritischen Inhaltsstoffen nur noch an wenigen Standorten in der Welt produziert werden, muss man schon fragen, warum diese Bestandteile nicht mehr im Inland hergestellt werden.
Die Wirtschaftsverbände blicken – wenig erstaunlich – überwiegend pessimistisch auf das neue Jahr. Gibt es dennoch ein Ergebnis der IW-Verbandsumfrage, das Sie überrascht hat?
Nicht wirklich. Die Lage ist schlechter als vor zwölf Monaten, das sehen von 49 immerhin 39 Branchen so. Das ist auch plausibel: Vor einem Jahr hatten wir eine relativ große Euphorie, der Blick ins Jahr 2022 war hoffnungsvoll. Man ging von einem durchschnittlichen Wirtschaftswachstum von 4 Prozent aus und alle Unternehmen erwarteten, dass es große coronabedingte Nachhol- und Aufholeffekte geben würde.
Ich glaube, dass 2023 bei vielen Unternehmen ein Jahr ist, in dem Investitionen pausieren.
Wenn man in die aktuelle Verbandsumfrage schaut, fällt vor allem das Kapitel Investitionen auf. Denn tatsächlich haben sich die Investitionserwartungen im Vergleich zur Vorjahresbefragung kaum verschlechtert, immerhin acht Verbände sagen sogar, dass sie 2023 mehr investieren wollen als 2022. Die Investitionen sind zwar in vielen Bereichen rückläufig, aber dafür gibt es Gründe: etwa weil der Markt neu eingeschätzt werden muss. Ich glaube, dass 2023 bei vielen Unternehmen ein Jahr ist, in dem Investitionen pausieren.
Welche Folgen hat dieser Trend langfristig für die deutsche Volkswirtschaft?
Es gibt natürlich Anreize für energieintensive Unternehmen, an Standorten zu investieren, wo die Energiekosten nachhaltig geringer sind. Die zentrale Frage lautet deshalb: Schaffen wir es, auf mittlere Sicht wieder erträgliche Energiekosten zu haben? Dann rückt auch der Standort Deutschland wieder nach vorne, wobei das nicht vor 2024 der Fall sein dürfte.
Obwohl die Verbände überwiegend von Produktionsrückgängen im Jahr 2023 ausgehen, erwartet kaum eine Branche massive Arbeitsplatzverluste. Wie sehen die Erwartungen im Detail aus?
Es gibt Bereiche wie die der Banken, Sparkassen und Volksbanken, die schon länger Personal abbauen aufgrund des Strukturwandels innerhalb der Branche. Dann gibt es Branchen, die das eigentlich nötige Personal schlicht nicht bekommen – hier werden vakante Stellen aufgrund des Fachkräftemangels einfach nicht besetzt, beispielsweise in Teilen des Handwerks und in einzelnen Baugewerbebereichen. Hinzu kommen Beschäftigungsrückgänge in Branchen, in denen es konjunkturell nicht gut läuft. Unterm Strich zeigt sich die Beschäftigung in der aktuellen Verbandsumfrage trotzdem vergleichsweise robust, zum Teil sogar robuster als während der Pandemie.
Die Bundesregierung versucht, mit zahlreichen Maßnahmen wie der Energiepreisbremse oder Direktzahlungen sowohl Verbraucher als auch Unternehmen zu entlasten. Wäre es nicht zielführender, den Markt wirken zu lassen, damit sich alle Akteure an die echten Preise anpassen?
Preissignale entfalten immer ihre Wirkung. Die Frage ist, ob sie zu einer Überforderung führen. Mit der Gas- und Strompreisbremse greifen wir gar nicht direkt in den Markt ein, sondern in die Folgeeffekte von Gas- und Strompreisentwicklungen. Ziel ist es, die Kosteneffekte der Unternehmen und die Kaufkrafteffekte der privaten Haushalte aufgrund der hohen Energiepreise befristet abzufedern, nicht auf null zu setzen. Und das ist, finde ich, in dieser Situation richtig.
Wir haben insgesamt sechs funktionsfähige Atomkraftwerke, die wir auch nach dem April 2023 mithilfe neuer Brennstäbe nutzen sollten.
Statt günstigem Gas aus Russland beziehen wir nun teures Gas aus den USA und Katar. Sollte dieses Geld nicht lieber in den Ausbau der Erneuerbaren investiert werden?
Das ist so, aber das wird uns in diesem Jahr und auch 2024 nicht helfen, weil die Planungs- und Genehmigungszeiten für einen Windpark sieben Jahre betragen. Auch die nötigen Stromleitungen Richtung Süden fehlen. Hier rächen sich die Versäumnisse aus der Vergangenheit.
Die FDP plädiert für das Fracking von Erdgas. Sollte Deutschland, das über große Schiefergasreserven verfügt, diese Fördertechnologie anwenden?
Ja, in dieser kritischen Übergangsphase finde ich es richtig, die heimischen Energieressourcen zu nutzen und auszuweiten. Das gilt auch für die Atomkraft. Wir haben insgesamt sechs funktionsfähige Atomkraftwerke – drei mobilisierbare, drei laufen noch –, die wir auch nach dem April 2023 mithilfe neuer Brennstäbe nutzen sollten. Es ist einfach günstiger, die Atomkraftwerke weiterlaufen zu lassen: Ein Meiler produziert so viel Strom wie 2.000 Windräder.