Interview: „Fläche, Fachkräfte, Ökostrom – das zieht Firmen an“
Mit ihrem Regionalranking zeigt die IW Consult alle zwei Jahre die Stärken und Schwächen der Städte und Kreise in Deutschland. Geschäftsführer Hanno Kempermann spricht im iwd über die Unterschiede zwischen Metropole und Land, sinnvolle Regionalpolitik und den Effekt der Energiewende.
- Der Süden Deutschlands ist wirtschaftlich sehr stark, der Norden holt aber auf, bilanziert IW-Consult-Geschäftsführer Hanno Kempermann.
- Gute Regionalpolitik in der Zukunft bedeutet für ihn, urbane Zentren zu stärken und den ländlichen Raum durch mehr Digitalisierung besser an diese anzubinden.
- Die Energiewende wird zudem ein entscheidender Standortfaktor. Immer mehr Unternehmen siedeln sich da an, wo es Ökostrom gibt, sagt Kempermann.
Die Metropolregion München ist nicht mehr so dominant im aktuellen Ranking wie in den Analysen zuvor. Lassen München und Umgebung nach oder holen die anderen auf?
Sowohl als auch. Die Vormachtstellung des Südens bröckelt insgesamt etwas. Früher kamen immer rund 90 der Top-100-Regionen des Niveaurankings aus dem Süden, also Südhessen, Bayern und Baden-Württemberg. Inzwischen sind es „nur noch“ etwa 80. Der industriestarke Süden spiegelt dabei die aktuell schlechte Wirtschaftslage wider. Dennoch ist festzuhalten: Der Süden ist immer noch brutal stark.
Der Norden holt aber auf. Dort gibt es einige Standortfaktoren, die der Süden so nicht hat, Stichwort Ökostrom. Das würde sich verstärken, wenn wir in Deutschland zwei Strompreiszonen bekommen sollten, wie es die Bundesnetzagentur derzeit plant. Dann ist der Strom im Norden auch noch günstiger. Dazu gibt es im Norden und Osten noch Industrieflächen, wo sich Unternehmen ansiedeln können. Fachkräfte sind hier auch noch besser verfügbar als woanders.
Also große Herausforderungen für den Süden und den Westen des Landes.
Ja. Sie könnten zwar nur vorübergehend sein, wenn die richtigen Weichen gestellt werden. Danach sieht es aber aktuell eher nicht aus. Der Wasserstoffausbau hakt, der Stromtrassenausbau hakt. Und dann kommen auf die Industrie noch generelle Herausforderungen zu angesichts der Tendenzen zur Deglobalisierung.
Ein Positivbeispiel ihres Rankings ist Mainz dank der Firma BioNTech. Macht die Stadt das Beste aus ihrer einmaligen Chance oder ginge noch mehr?
Die Stadt wird am Ende insgesamt mindestens drei Jahre lang sehr hohe Gewerbesteuern einnehmen. Im ersten Impfjahr waren es mehr als 1 Milliarde Euro. Und die Stadt hat das Geld bisher sehr weitsichtig investiert. Sie hat eine Art Start-up-Cluster gebaut, um andere Biotech-Unternehmen dort groß werden zu lassen. Außerdem hat sie die Universität gestärkt. Die Hebesätze für die Gewerbesteuer wurden gesenkt, um Mainz attraktiv für den Rest der Wirtschaft zu machen. Die Schulden wurden reduziert. Die Verantwortlichen wussten genau: Sie sitzen auf einer Jahrhundert-Chance und müssen sie nutzen.
Ein Blick ans Ende des Rankings: Haben diese vor allem im Ruhrgebiet und im Norden gelegenen Städte aufgrund ihrer vielfältigen Probleme und teils desaströsen finanziellen Situation überhaupt die Chance, aufzusteigen?
Es ist sehr schwierig. Dort wird zwar viel gemacht, aber die Städte leiden unter der Altschuldenproblematik. Diese muss gelöst werden – aber intelligent. Es hat niemand etwas davon, wenn der Bund die Schulden einfach übernimmt und in 20 Jahren stehen die Städte wieder so da wie heute, sofern sie in alte Muster verfallen sollten. Wenn, dann müsste die Übernahme an klare Anreizmechanismen und Vorgaben gekoppelt sein.
Die gewachsenen Strukturen in den ländlichen Räumen sind herausragend.
Das grundsätzliche Problem für die Städte: Aus einer solch finanziell angespannten Situation entsteht viel Stress. Wenn sie im Haushaltsnotstand sind, müssen sie um jede Ansiedlung einer Firma kämpfen. Teilweise wird dann gegen Nachbarstädte und -kommunen gearbeitet. Es wäre aber viel sinnvoller, bei der Ansiedlung von Unternehmen miteinander zu besprechen, wo diese am besten hinpassen. Gibt es Möglichkeiten für interkommunale Gewerbegebiete – gerade im Ruhrgebiet? Lassen sich Regelungen finden, damit am Ende mehrere Kommunen von Firmenansiedlungen profitieren? Kooperatives Arbeiten würde das ganze System deutlich voranbringen.
Provokant gefragt: Wäre es für die Gesellschaft nicht die günstigere Variante, wenn in manchen dünn besiedelten Gegenden „der Letzte das Licht ausmacht“?
Es gibt für diese Idee Fürsprecher. Ich bin strikt dagegen! Die gewachsenen Strukturen in den ländlichen Räumen sind herausragend. Die Arbeitslosenquoten sind dort niedriger als in den Städten, die Kaufkraft ist höher. 50 Prozent der weltweiten Hidden Champions kommen aus Deutschland, davon ist die Mehrheit in ländlichen Räumen zu Hause. Das bedeutet: Wir haben wirtschaftliche Stabilität in den ländlichen Räumen.
Aber Dekarbonisierung und Digitalisierung führen dazu, dass einige ländliche Räume stark unter Druck sind. Die Menschen haben dort Angst um ihre Jobs. In diesen Regionen wird die AfD häufiger gewählt als in anderen ländlichen Regionen, weil die Partei die Illusion vermittelt, dass sie den Status quo erhalten kann.
Das Licht-ausmachen-Argument ist aus meiner Sicht auch zynisch, weil man den Leuten ja die Heimat wegnimmt. Wenn sich Menschen von sich aus entscheiden, wegzuziehen, ist das etwas ganz anderes.
Wir haben in Deutschland oft das Problem, dass wir mit der Gießkanne verteilen.
Wie stellen Sie sich eine gute Regionalpolitik vor?
Es ist wichtig, dass Zentren weiter große Bedeutung haben, denn sie sind Innovationsbooster. Hochschulen, Forschungsinstitute, Start-ups – das findest du in urbanen Räumen. Dort sind Produktivität und Innovationsaktivität höher. Die ländlichen Räume sollten noch besser an diese Zentren angebunden werden. Das lässt sich wunderbar über die Digitalisierung lösen. Wir haben eine Studie zum Thema Cloud-Nutzung veröffentlicht, die zeigt: Nutzen Unternehmen auf dem Land die Cloud und deren Innovationstools, sind sie genauso innovativ wie Firmen in der Stadt. Die Distanznachteile lassen sich also kompensieren.
Sollte Regionalpolitik eine noch größere Rolle auf europäischer Ebene spielen?
Sie spielt schon eine große Rolle und das ist auch sinnvoll. Wir wollen in Europa gleichwertige Lebensverhältnisse für alle schaffen. Dann muss den ländlichen Regionen eine entsprechende Bedeutung zugestanden werden. Die finanziellen Mittel sollten daher in Zukunft nach Möglichkeit nicht sinken.
Noch ein Punkt zu Deutschland an dieser Stelle: Wir haben hier oft das Problem, dass wir mit der Gießkanne verteilen. Anstatt in Förderprojekten wenige Kommunen mit entsprechend hohen Mitteln auszustatten, erhalten aus Proporzgründen mehr Kommunen Gelder, dafür aber deutlich weniger. So kommen wir nicht voran und können auch nichts aus diesen Projekten für die Zukunft ableiten. Mein Appell: Baut „Leuchttürme“ und bindet dabei immer die Wirtschaft vor Ort ein.
Sie heben in ihrem Gutachten die Vorteile des ländlichen Raums für die Energiewende hervor. Glauben Sie, das könnte mehr Menschen dazu bringen, aufs Land zu ziehen?
Das wird voraussichtlich nicht wegen der Energiewende passieren. Es könnte aber der mittelbare Effekt sein: Wenn sich Firmen im ländlichen Raum ansiedeln, so wie Northvolt in Heide, ziehen dort Menschen hin – das ist der Pull-Effekt.
Ansonsten sind es die Immobilienpreise, die Menschen aufs Land ziehen. Das geht einher mit New Work: Weniger pendeln dank Homeoffice, mehr Garten, mehr Freiraum. In den vergangenen beiden Jahren sind in Deutschland unterm Strich 350.000 mehr Menschen von der Stadt aufs Land gezogen als umgekehrt.
Und wie sieht es mit großen Unternehmen aus – haben die einen Anreiz, aufs Land zu ziehen?
Die Industrieunternehmen suchen immer mehr nach Ökostrom. Intel ist nach Magdeburg gegangen, weil er dort verfügbar ist. Wir haben in der Vergangenheit die Neuansiedlungen in einer Karte festgehalten. Ergebnis: 2021 sind 80 Prozent der Direktinvestitionen aus dem Ausland in den Osten geflossen und fast der ganze Rest in den Norden. Es gilt: Fläche, Fachkräfte, Ökostrom – dieser Dreiklang zieht Firmen an.