Wirtschaftskriminalität Lesezeit 4 Min.

Interview: „Die Statistik zeigt nur die Spitze des Eisbergs“

In Deutschland wurden zuletzt rund 73.000 Fälle von Wirtschaftskriminalität registriert. Doch die Dunkelziffer ist deutlich höher. So gehen die beiden IW-Verhaltensökonomen Jennifer Potthoff und Dominik Enste davon aus, dass allein durch Korruption, Kartellabsprachen und Schwarzarbeit jährliche Umsatzeinbußen von 450 Milliarden Euro entstehen.

Kernaussagen in Kürze:
  • Die beiden IW-Verhaltensökonomen Jennifer Potthoff und Dominik Enste forschen zur Wirtschaftskriminalität. Sie gehen davon aus, dass der Großteil der Wirtschaftsdelikte nicht öffentlich wird.
  • Wenn Unternehmen Fälle von Wirtschaftskriminalität verschweigen, schaden sie sich damit selbst, so Enste: „Wenn ein Betrieb seine Mitarbeiter zum Beispiel nicht vor Phishing-Mails warnt, dann steigt das Risiko, dass Beschäftigte Firmeninterna über solche unerkannten E-Mails preisgeben.“
  • Wer sind die Täter? „Umfragen zufolge werden in Deutschland Wirtschaftsdelikte etwa jeweils hälftig von externen Tätern und Internen begangen“, so Potthoff.
Zur detaillierten Fassung

Die Wirtschaftsdelikte in Deutschland sind zuletzt vor allem in Schleswig-Holstein regelrecht explodiert. Was ist da passiert?

Potthoff: Das geht auf ein einzelnes Sammelverfahren zurück, wo ein betrügerisches Unternehmen über eine Dating-Plattform den Nutzerinnen und Nutzern vorgetäuscht hat, dass sie die präsentierten Personen wirklich kennenlernen können. Tatsächlich beutete es die Plattformkunden aber finanziell aus, insgesamt kamen so in Schleswig-Holstein mehr als 33.000 Schadensfälle nur aufgrund dieses einen Unternehmens zusammen.

Die aufgedeckten Fälle in Deutschland haben zuletzt rund 2 Milliarden Euro Schaden im Jahr verursacht. Die Fälle von Korruption, Kartellabsprachen und Schwarzarbeit, die nicht öffentlich werden, dürften allerdings im Jahr 2023 zu Umsatzeinbußen von hochgerechnet 450 Milliarden Euro geführt haben.

Enste: Dieser Fall zeigt das Problem mit der offiziellen Statistik, die nur die Spitze des Eisbergs offenbart. Die aufgedeckten Fälle in Deutschland haben zuletzt rund 2 Milliarden Euro Schaden im Jahr verursacht. Das gesamte Dunkelfeld, also die Fälle, die nicht öffentlich werden, kommt im Jahr 2023 für die Delikte Korruption, Kartellabsprachen und Schwarzarbeit dagegen auf Umsatzeinbußen von hochgerechnet 450 Milliarden Euro.

Schaden sich Unternehmen, die Wirtschaftsdelikte im eigenen Betrieb vertuschen, damit nicht langfristig selbst?

Enste: Unternehmen schaden sich vor allem dann selbst, wenn sie keine Prävention betreiben: Wenn ein Betrieb seine Mitarbeiter zum Beispiel nicht vor Phishing-Mails warnt, dann steigt das Risiko, dass Beschäftigte Firmeninterna über solche unerkannten E-Mails preisgeben. Wir empfehlen Unternehmen deshalb, Präventionsmaßnahmen gegen Wirtschaftskriminalität zu ergreifen und das Thema nicht totzuschweigen.

Wo lauert für Unternehmen die größte Gefahr? Intern oder extern?

Potthoff: Umfragen zufolge werden in Deutschland Wirtschaftsdelikte etwa jeweils hälftig von externen Tätern und Internen – damit sind das Topmanagement, das Management und Mitarbeiter gemeint – begangen. Deshalb sind neben internen Schulungen auch Maßnahmen zur Erhöhung der Cybersicherheit wichtig, um sich vor externen Angriffen durch beispielsweise Kunden oder Lieferanten zu schützen.

Sie beschreiben in Ihrer Studie das typische Täterprofil von Menschen, die Wirtschaftsdelikte begehen: So weisen viele Wirtschaftskriminelle eine narzisstische Persönlichkeit auf. Warum sortiert man bei Neueinstellungen solche Persönlichkeiten nicht einfach aus?

Jennifer Potthoff ist wissenschaftliche Referentin im IW-ClusterVerhaltensökonomik und Wirtschaftsethik, Dominik Enste ist Leiter des IW-Clusters Verhaltensökonomik und Wirtschaftsethik; Foto: IW

Enste: Natürlich kann man mit Bewerbern einen Persönlichkeitstest machen, das Problem ist allerdings, dass die Beschreibung des perfekten Täters zugleich auch die Beschreibung einer typischen Führungskraft ist, die man gerne haben möchte: Menschen, die extrovertiert, engagiert und in der Lage sind, sich gut zu verkaufen. Sehr viele Narzissten befinden sich in Führungspositionen, weil sie entsprechende Eigenschaften haben, die zum beruflichen Erfolg beitragen. Umgekehrt führen diese Eigenschaften dazu, dass gerade diese Menschen eher dazu neigen, über die Stränge zu schlagen oder Betrug zu begehen, wenn die Karriere nicht mehr so steil nach oben geht. Das ist das Dilemma: Es hilft nichts, diese Charaktere auszusieben, denn dann siebt man zugleich sehr gute Führungskräfte aus.

Was ist aus Unternehmenssicht das einfachste und kostengünstigste Mittel, um Wirtschaftskriminalität zu verhindern?

Enste: Sehr effektiv sind Seminare für Führungskräfte zum integren Wirtschaften, die aufzeigen, wie Vorgesetzte eine wertschätzende Kontrolle ausüben können. So ausgebildete Führungskräfte können als Frühwarnsystem fungieren: Sie freuen sich nicht nur darüber, dass ein Mitarbeiter besonders gut performt, sondern gucken auch: Worauf basiert dieser Erfolg? Benutzt der Kollege, der plötzlich viel mehr Artikel schreibt als die anderen Kollegen, vielleicht ChatGPT? Oder beruht der hohe Output einfach auf Fortune oder Fleiß?

Wie viel Prozent der Unternehmen in Deutschland praktizieren diese Art des Führens?

Enste: Fast zwei Drittel der Führungskräfte sagen von sich selbst, dass sie mit Werten führen. Allerdings empfinden nur 5 bis 8 Prozent der Mitarbeiter, dass das tatsächlich stattfindet. Einig sind sich Mitarbeiter und Führungskräfte darin, dass mehr Zeit für Führung zur Verfügung stehen sollte.

Ethische Reminder sorgen dafür, dass Menschen sich sozialer verhalten

Potthoff: Auch Nudges in Form von gezielten Erinnerungen sind ein gutes und günstiges Mittel der Prävention. Das kann beispielsweise der Verhaltenskodex des Unternehmens sein, der vor korruptionsanfälligen Verhandlungen mit den beteiligten Mitarbeitern noch einmal thematisiert wird. Solche Reminder aktivieren andere Gehirnregionen und sorgen dafür, dass sich diese Menschen anschließend wesentlich sozialer verhalten.

Ist die Abschreckung ausreichend? Braucht es härtere Strafen?

Enste: Ein gutes Beispiel ist der Sarbanes-Oxley Code of Ethics: Er bietet Kapitalgesellschaften in puncto Korruptionsdelikten Anreize, präventiv zu agieren. Das Prinzip lautet: Je mehr Prävention ein Unternehmen betrieben hat, desto geringer fällt die Strafe aus, wenn es dann doch zu einem Wirtschaftsverbrechen kommt. Wer nachweislich nichts unternommen hat, muss bei einem Schadensfall dementsprechend eine höhere Strafe zahlen.

Ansonsten reichen die Gesetze und Maßnahmen aus, es sind ja heute schon Gefängnisstrafen für Wirtschaftskriminelle möglich.

In den vergangenen Jahren waren auch politische Akteure nicht gerade gute Vorbilder bei der Thematik – Stichwort Maskendeals und Cum-ex-Geschäfte …

Enste: Es scheint so, dass Menschen Leuten, die ein Verbrechen begangen haben, umso eher verzeihen, je komplizierter die Dinge sind. Donald Trumps Verstrickungen in dubiose Geschäfte haben nicht verhindert, dass er Präsident wurde. Viele Wähler erwarten auch einfach nicht, dass Politiker besonders integer sind. Das größte Vertrauen wird in Deutschland nicht der Berufsgruppe der Politiker entgegengebracht, sondern den Feuerwehrleuten.

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