Interview Lesezeit 2 Min.

„Es gibt ein diffuses Gefühl sozialer Verwundbarkeit“

Die Bevölkerung im Ruhrgebiet macht sich über viele Dinge mehr Sorgen als der Rest der Bundesbürger. Warum das so ist, erläutert Anna-Lena Schönauer, Soziologin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Allgemeine Soziologie, Arbeit und Wirtschaft der Ruhr-Universität Bochum.

Kernaussagen in Kürze:
  • Dass die Menschen im Ruhrgebiet besorgter sind als im Bundesdurchschnitt, führt die Soziologin Anna-Lena Schönauer von der Ruhr-Uni Bochum auch auf die Folgen des jahrzehntelangen Strukturwandels zurück.
  • Auch das schlechte Abschneiden in vielen Regional- und Städterankings trägt laut Schönauer bei den Bewohnern des Ruhgebiets zu einem diffusen Gefühl sozialer Verwundbarkeit und sozialer Abgehängtheit bei.
  • Dennoch ist die Soziologin optimistisch, was den Zusammenhalt der Menschen im Revier während der Corona-Krise betriftt, denn das soziale Engagement im Ruhrgebiet ist auf einem ähnlich hohen Niveau wie im Rest Deutschlands.
Zur detaillierten Fassung

Eine aktuelle IW-Studie zeigt, dass die Menschen im Ruhrgebiet besorgter und misstrauischer sind als im Bundesdurchschnitt. Woran liegt das?

Tatsächlich malen diese Befunde erst mal ein relativ schwarzes Bild. Aber man muss dabei berücksichtigen, dass das Ruhrgebiet eine sehr heterogene Region ist, zu der auch viele Städte gehören mit Stadtteilen, die zum Teil sehr stark abgehängt sind. Das ist sicherlich eine Ursache für die negativen Befunde.

Man sollte die Menschen anregen, sich selber stärker einzubringen und etwas zu verändern. In der Flüchtlingskrise haben sehr viele Leute im Ruhrgebiet spontan geholfen.

Das größere Misstrauen und die größere Besorgnis der Ruhrgebietsbewohner bleiben aber auch bestehen, wenn man Faktoren wie die individuelle Einkommens- und Erwerbssituation berücksichtigt und mit ähnlich situierten Menschen außerhalb des Ruhrgebiets vergleicht.

Anna-Lena Schönauer ist Soziologin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Allgemeine Soziologie, Arbeit und Wirtschaft der Ruhr-Universität in Bochum, Foto: privat Das ist tatsächlich überraschend, könnte aber mit dem jahrzehntelangen Strukturwandel zusammenhängen: Erst gab es die Zechenschließungen, durch die viele Menschen arbeitslos geworden sind, dann kamen Industrieunternehmen wie Opel und Nokia, die ebenfalls wieder geschlossen wurden. Die Menschen im Ruhrgebiet – und hier vor allem die Facharbeiter – leben mit diesen Erfahrungen und den damit verbundenen Sorgen. Hinzu kommt, dass das Ruhrgebiet in vielen Regional- und Städterankings sehr schlecht abschneidet – auch das trägt bei den Bewohnern zu einem diffusen Gefühl sozialer Verwundbarkeit und sozialer Abgehängtheit bei, was sich dann in größerer Besorgnis niederschlägt.

Ausgerechnet um das Klima und die Umwelt machen sich die Menschen im Ruhrgebiet keine größeren Sorgen als anderswo.

Durch den Strukturwandel ist die Umweltbelastung im Ruhrgebiet stark zurückgegangen, hier hat sich in der Region also etwas deutlich zum Positiven gewendet.

Wie wirkt sich die Einstellung der Ruhrgebietsbewohner auf deren Umgang mit der Corona-Krise aus?

Das soziale Engagement im Ruhrgebiet ist auf einem ähnlich hohen Niveau wie im Rest Deutschlands, die Nachbarschaftshilfe ist sogar besonders stark ausgeprägt. Diese Versorgungsstrukturen und Unterstützungsnetzwerke bilden eine gute Basis für Krisenzeiten.

Trotzdem halten die Menschen im Revier Mitmenschen für wenig hilfsbereit. Wie passt das zusammen?

Diese Aussage betrifft aber nur generelle Einstellungen. Im konkreten, individuellen Fall dürften Solidarität und Anpackermentalität, die ja typisch sind für das Ruhrgebiet, deutlich größer sein als vermutet.

Muss man dann überhaupt etwas unternehmen?

Wenn die Menschen in der praktischen Alltagswelt so negativ und besorgt sind, dann müsste man gegensteuern. Es gibt im Ruhrgebiet schon heute viele Projekte und Quartiersarbeit, vor allem in abgehängten Stadtteilen. Es würde aber auch helfen, wenn Politik und Medien die positiven Beispiele, die es im Ruhrgebiet ja durchaus gibt, mehr hervorheben würden.

Und was können die Ruhrgebietsbewohner selbst gegen ihr Stimmungstief tun?

Man sollte die Menschen anregen, sich selber stärker einzubringen und etwas zu verändern. In der Flüchtlingskrise haben sehr viele Leute im Ruhrgebiet spontan geholfen. Das zeigt, dass es viele Möglichkeiten gibt, sich gegenseitig zu unterstützen und Dinge voranzutreiben.

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