„Eine Diskussion zur rechten Zeit, aber eine Entscheidung zur Unzeit“
Die Große Koalition hat heute die Verlängerung des Kurzarbeitergelds bis zum 31. Dezember 2021 beschlossen. Die Kurzarbeit hat sich zu Beginn der Corona-Krise bewährt – dennoch kommt die Vereinbarung angesichts der wirtschaftliche Erholung in den vergangenen Monaten zu früh, findet Oliver Stettes, Arbeitsmarktexperte im Institut der deutschen Wirtschaft.
- Da die wirtschaftliche Erholung Fahrt aufgenommen hat, kommt die Verlängerung des Kurzarbeitergelds bis Dezember 2021 nach Meinung von IW-Ökonom Oliver Stettes zu früh.
- Der Arbeitsmarktexperte sieht das Risiko, dass an Arbeitsverhältnissen festgehalten wird, die auch bei einer wirtschaftlichen Erholung keine Perspektive mehr haben und am Ende doch aufgelöst werden
- Er ist der Meinung, dass die Verlängerung der Bezugsdauer die Kosten der Kurzarbeit für die Beitragszahler – und am Ende auch für die Steuerzahler – zusätzlich erhöhen wird.
Kurzarbeit ist mit einer Medizin vergleichbar: In der richtigen Dosis und zum richtigen Zeitpunkt verabreicht, kann sie die Genesung des Patienten fördern. Kurzarbeit ist ein zentrales Instrument, um bei einem vorübergehenden Auftragsrückgang Arbeitsplätze zu sichern – das hat sich bereits in der Krise 2008/2009 gezeigt. Die Kurzarbeit hat sich auch zu Beginn der Corona-Krise einmal mehr bewährt. Der Arbeitsmarkt ist dadurch bislang vor erheblichem Schaden bewahrt worden. Die Arbeitslosigkeit ist nur moderat gestiegen, wenn man das Ausmaß des wirtschaftlichen Einbruchs bedenkt. Es ist daher richtig, heute darüber nachzudenken, ob und in welcher Form die derzeitigen Sonderregelungen über den 31. Dezember hinaus verlängert werden sollten.
Die Einnahme von Medikamenten kann allerdings mit unerwünschten Nebenwirkungen verbunden sein, insbesondere bei Daueranwendung und erhöhter Dosierung. Bei Kurzarbeit besteht die Nebenwirkung grundsätzlich in dem Risiko, dass an Arbeitsverhältnissen festgehalten wird, die auch bei einer wirtschaftlichen Erholung keine Perspektive mehr haben und am Ende doch aufgelöst werden.
Für die Betroffenen, aber auch für die Volkswirtschaft als Ganzes, ist es sinnvoller, dass diese Beschäftigten dorthin wechseln, wo wirtschaftliche Perspektiven bestehen. Das Risiko, an nicht tragfähigen Arbeitsplätzen festzuhalten, steigt mit der Bezugsdauer des Kurzarbeitergelds, zum Beispiel wie jetzt vorgesehen von 12 auf 24 Monate, wenn woanders eine Beschäftigungsalternative zu finden ist. Da die wirtschaftliche Erholung Fahrt aufgenommen hat, auch wenn sie noch mit Unsicherheiten behaftet ist, kommt die jetzt getroffene Vereinbarung zu früh.
Ohnehin gibt es an den aktuellen Regelungen grundsätzliche Kritikpunkte. Die derzeit geltende Aufstockung des Kurzarbeitergelds von 60 auf 70 Prozent für Begünstigte ohne Kinder und von 67 auf 77 Prozent für Begünstigte mit Kindern ab dem vierten Monat und auf 80 beziehungsweise 87 Prozent ab dem siebten Monat war ohnehin schon kritisch zu sehen. Sie bedeutet nicht nur eine Ungleichbehandlung von Arbeitslosen und Kurzarbeitern, sondern erhöht das Risiko, dass sich die Betroffenen nicht nach einem alternativen Arbeitsplatz umsehen. Das beschlossene Festhalten an der Aufstockung und die Verlängerung der Bezugsdauer wird die Kosten der Kurzarbeit für die Beitragszahler – und am Ende auch für die Steuerzahler – zusätzlich erhöhen.
Bei Kurzarbeit besteht die Nebenwirkung grundsätzlich in dem Risiko, dass an Arbeitsverhältnissen festgehalten wird, die auch bei einer wirtschaftlichen Erholung keine Perspektive mehr haben und am Ende doch aufgelöst werden.
Schließlich widerspricht die beschlossene Koppelung der vollständigen Erstattung von Sozialversicherungsabgaben für ausgefallene Arbeitsstunden an Qualifizierungsmaßnahmen ab Juli 2021 der Logik von Kurzarbeit als Anpassungsinstrument für vorübergehende Auftragseinbrüche. Wenn die Koalitionsparteien heute bereits davon ausgehen, dass Unternehmen über den 31. Dezember 2020 hinaus temporäre Auftragseinbußen verzeichnen werden, hätten sie konsequenterweise auch die vollständige Erstattung bis zum 31. Dezember 2021 beschließen sollen.
Die Koppelung wirft in der Praxis zudem die Frage auf, wie ein Betrieb geeignete Qualifizierungsmaßnahmen organisieren soll, wenn der angezeigte Arbeitsausfall nicht dem zeitlichen Umfang zulässiger Qualifizierungsmaßnahmen entspricht. Es steht zu befürchten, dass die Bundesagentur vorrangig formale Qualifizierungsmaßnahmen wie Lehrgänge als Voraussetzung für die vollständige Erstattung über den 30. Juni 2021 hinaus ansehen wird, obwohl vielerorts informelles Lernen, zum Beispiel am Arbeitsplatz, effektiver sein dürfte.